Der Podcast von Tim Guldimann nimmt aus Politik und Gesellschaft relevante Fragen auf, die über die Tagesaktualität hinausgehen. Die prominenten Gesprächspartner – jeweils eine Frau und ein Mann – sind selbst im Themenbereich aktiv tätig. Monatlich werden laufend zwei neue Debatten aufgenommen. Tim Guldimann leitete Friedensmissionen im Kaukasus und Balkan, war Schweizerischer Botschafter in Teheran und Berlin und war danach bis 2018 Schweizerischer Parlamentsabgeordneter.
„Eine globale Unordnung löst die westlich dominierte Weltordnung ab. Haben Friedenspolitik, Entwicklungshilfe und das humanitäre Völkerrecht überhaupt noch eine Chance?“ – mit Peter Maurer und Carolina Frischkopf
Der frühere Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer widerspricht meiner Behauptung, wir seien „in einer Welt aufgewachsen, da war sie noch in Ordnung (..) Die sogenannte internationale Ordnung, (..) hat einfach so nicht gespielt für ganz viele Leute, aber das wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ Carolina Frischkopf, die designierte Direktorin des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) stimmt zu: „Es ist eine Welt in Unordnung, die immer in Unordnung war. (..) Bis jetzt hatten wir eine klare Ordnung, wer Macht hat, die Pax Americana. (…Die Amerikaner) haben die Weltordnung so nutzen können, wie es für sie gestimmt hat.(..) Wir hatten eine von Amerika dominierte Weltordnung, dort gelang es nicht, die wirtschaftliche Entwicklung für alle zugänglich zu machen. China hat das für China geschafft.“„Was sich geändert hat", gemäss Maurer, "ist der Konsens, darüber, wer sich mit dieser Unordnung beschäftigen soll und kann. Die Leadership-Funktion der westlichen Welt ist in Frage gestellt. (..) Was nicht in Frage gestellt wird, sind die Zielvorstellungen, die sich Gesellschaften machen bezüglich Frieden, Respekt von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht. (..) Was abgelehnt wird, ist eine machtpolitische abgestützte Interpretation dieser Normen, aber nicht die Normen selbst. Und das ist ein grosser Unterschied. (..) Wir haben keine Akzeptanz der machtpolitischen Ordnung. Daher müssen Normen wieder neu verhandelt werden.“Für Maurer gibt es ein Entwickungsparadox: „Es hat noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Leute gegeben, die gesund, wohlhabend, miteinander verbunden und ausgebildet waren. Und gleichzeitig hat es noch nie auf der Welt so viele Menschen gegeben, die ausgeschlossen sind von politischen Entscheidungsprozessen, die in Armut verharren, die die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf sich vereinigen. Und beides stimmt. Und das ist eigentlich die Problematik, mit der sich das internationale System heute beschäftigen muss, (..) das von den fragilen Kontexten durcheinander gerüttelt wird (..): Klimawandel, strukturelle Armut, Korruption, Auswirkungen von Pandemien (..) So haben wir Orte auf der Welt, die praktisch nicht mehr regierbar sind und die ausserhalb des internationalen Systems sind. Das internationale System erlebt eine Delegitimierung, weil sich heute diese Leute auch melden, weil sie verbunden sind mit der Welt und sagen: Euer Diskurs stimmt nicht.“"Es braucht einen fundamental anderen Ansatz, wie wir ein Hilfesystem aufbauen, das auch den lokalen Begebenheiten Rechnung tragt“, ", so Maurer weiter. "Dafür brauche es aber „mehr als Augenhöhe“, argumentiert Frischkopf, „der Lead für die Entwicklung muss bei den Ländern selber sein und bei den Partnern, weil sie am besten wissen, was sie brauchen und was bei ihnen funktioniert oder nicht. Und das ist im Gegensatz zu dem, was bei uns Geldgeber oder auch Staaten an Entwicklungspolitik machen wollen.“ Das bestätigt Maurer: „Ich habe stark gespürt in den 10 Jahren, wo ich IKRK-Präsident war, wie die Legitimität westlicher Helferei fundamental in Frage gestellt wurde,(..) weil man gesehen hat, dass dies die falsche Hilfe ist, die nicht den Bedürfnissen entspricht.“Ist es legitim, in der globalen Unordnung mit Gaunern und Schurken als Partner zu verhandeln? „Das war immer so, das hat sich nicht geändert“, antwortet Frischkopf, „man hat mit Saddam Hussein und Gaddafi gut verhandelt, das hat realpolitisch immer funktioniert“. Und Maurer ergänzt aus seinen Erfahrungen mit autoritären Regimen: „Wir haben die unangenehme Gewohnheit, sie als Diktaturen und als korrupte Regierungen (zu bezeichnen), wie wenn es Korruption bei uns nicht gäbe, wie wenn es autoritäre Bestrebungen bei uns nicht gäbe. " Dazu Frischkopf: „Ich habe das in China erlebt und das hat mich sehr beeindruckt (..) Wenn man mit Chinesen zusammensitzt, sind sie da, um von einem zu lernen.“
1/3/2024 • 48 minutes, 6 seconds
„Kann Solidarität nur einseitig sein, mit Israel oder mit palästinensischen Opfern?“ – mit Felix Klein und Jouanna Hassoun
Johanna Hassoun, Deutsch-Palästinenserin und Leiterin der Stiftung Transaidancy, konnte am 7.Oktober zuerst „gar nicht verstehen, was genau passiert ist“. Sie ist in einem palästinensischen Flüchtlingslager mit der persönlichen Erfahrung von Krieg und Repression aufgewachsen. „Von daher weiss ich, was es bedeutet Krieg zu erleben (..) und ich weiss, Gewalt und Hass ist keine Lösung“. Auch Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, konnte die Nachrichten „am Anfang gar nicht glauben. (..) Mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee (..) kann das doch nicht so katastrophal funktioniert haben“. Seither hätten die antisemitischen Straftaten stark zugenommen; er sei erschüttert, „dass jüdische Familien jetzt verunsichert sind und ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken (..) und dass auf der anderen Seite jetzt ein Generalverdacht auf Muslime und insbesondere auf Palästinenser niederprasselt (..). Die Heftigkeit, mit der das passiert ist, und auch die Schnelligkeit (..) sind wirklich dramatisch“„Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, so Hassoun. (..) Die Frage ist auch, geht es um palästinensische Menschen, die aufgrund ihres Schicksals (..) eine Art Trauma haben, dann haben sie auch einen anderen Umgang verdient in Bezug auf Kritik“. Hassoun ist besorgt, „dass vor allem palästinensische Menschen kriminalisiert werden, wenn sie sich mit ihren palästinensischen Geschwistern solidarisieren. (..) Allerdings, wenn Straftaten begangen werden, wenn jüdische Menschen bedroht werden, (..) dann müssen wir ganz klar handeln."„Der Antisemitismus“, so Klein, „hat viele Quellen (…), das speist sich alles aus dem, was schon da war: den 15-20% der Menschen in Deutschland, die judenfeindliche Ansichten haben. (..) Es gibt jetzt die Gelegenheit, das auszuleben und die sozialen Medien sind ein Brandbeschleuniger“. Er sei aber zuversichtlich, weil „das Gesetz über die digitalen Dienste endlich ein Mittel (werde), auch repressiv vorzugehen, um das strafbar zu machen im Internet, was auch im normalen Leben strafbar ist, (..) was Beleidigungen oder Holocaust-Leugnung angeht."Hassoun erzählt von ihren Erfahrungen, wenn sie zusammen mit einem jüdischen Mitstreiter in Berliner Schulen Aufklärung betreibt: „Die jungen Menschen haben Wut, sie haben Angst, sie haben Schmerz, wir haben unglaublich viele betroffene Menschen. (..) jüdische und palästinensische Menschen sind eher bereit, miteinander ins Gespräch zu kommen und den Schmerz des anderen anzuerkennen. Das habe ich in fast 40 Trialogen mit meinem Kollegen erlebt . (..) Das Problem haben wir bei den Ideologen, die hoch politisiert sind und uns beiden die Identität absprechen, entweder das Existenzrecht von Israel oder das Existenzrecht von Palästinensern. Und da kommen die Social Media ins Spiel.“ „Die Situation für uns palästinensische und muslimische Menschen in Deutschland ist teilweise emotional so unerträglich, dass viele Menschen (..) sagen: Ich weiss gar nicht, ob ich mich hier willkommen fühle und ob ich noch hierbleiben möchte, weil ich mich mit meiner Identität nicht gesehen fühle. (..) Solange der Krieg tobt, solange so viele Menschen sterben, solange die Geiseln noch in den Händen der Hamas sind, werden wir (..) keinen Frieden haben, wir werden auch nicht konstruktiv diskutieren können. (..) Das Einzige, was wir machen können, ist zuzuhören, versuchen, die Wut zu verstehen und versuchen, die Menschen einzufangen.“„Wenn wir von der Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel sprechen“, wünscht sich Hassoun zum Schluss, „dass wir diese Verantwortung erweitern auf die palästinensischen Menschen, die sekundär auch von der Shoa, vom Holocoust betroffen sind, (..) weil sie ihre Heimat verloren haben, dass Deutschland seine Verantwortung auch ihnen gegenüber wahrnimmt.“ Dazu anerkennt Klein „eine besondere Rolle Deutschlands, in diesem Konflikt eine positive Rolle zu spielen".
12/22/2023 • 43 minutes, 47 seconds
„Krieg, Zeitenwende und Aufrüstung - Ist der Pazifismus am Ende?“ – mit Sara Nanni und Hans Christoph Atzpodien
Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Sara Nanni möchte „die These, dass (die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg) eine Wende war, ein bisschen aufweichen“, es gehe ihr vielmehr um einen realistischen „Blick darauf, was man politisch erreichen kann und wann es Militär braucht, um politisch Lösungen möglich zu machen.“ Zur pazifistischen Vergangenheit der Grünen sagt sie: „Natürlich, es gab starke radikal pazifistische Teile in unserer Bewegung, aber es gab immer auch die pragmatisch pazifistischen Teile (..) Die heutige Grüne Partei würde ganz anders auf die Debatten von damals kucken, das hat sich massiv weiterentwickelt, das hat auch was mit der Regierungsverantwortung zu tun“. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie Hans Christoph Atzpodien „war überrascht von der Entschiedenheit des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung mit den 100 Milliarden Sondervermögen“. Zuvor sah er seine Arbeit „als den unpopulärsten Job Deutschlands (..) Man konnte es vor dem Februar 22 ganz deutlich sehen (..), wie Banken mit uns als Industrie umgegangen sind“ und „unter dem Drängen des Green Deal (..) zum Teil gesagt haben, wer die Bundeswehr beliefert, der kriegt von uns keine Bankgarantie mehr“. Was ist die richtige Politik für Waffenexporte, wenn wir plötzlich feststellen, dass deutsche Waffen wie die aufgerüsteten Fregatten der Emirate im Jemenkrieg zum Einsatz kommen? Nanni stellt fest: „In den letzten zwei Jahre ist es ja schon deutlich restriktiver gelaufen.“ Dabei müsse man verstärkt „die mittel- und langfristige Perspektive miteinbeziehen. (..) wenn der Moment des Handschlages 15 Jahre vom Moment der Auslieferung entfernt, ist“, sonst zwingen politische Veränderungen zu einem abrupten Exportverbot. Atzpodien erwähnt dazu die beabsichtigte Auslieferung von deutschen Booten an Saudi-Arabien, „dann kam der Mordfall Khashoggi, wo dann Kanzlerin Merkel gesagt hat, wir stoppen jetzt alle Ausfuhren“.Deshalb plädiert Nanni für Zurückhaltung: „Ich sehe auch, dass die Stückzahlen, die in der NATO abgenommen werden, so gering sind, dass sich die pro-Stück-Kosten sehr hoch entwickeln, wenn man gar nicht mehr exportiert. (..) Da wäre ich dann im Zweifelsfall bereit, pro Stück mehr zu bezahlen (..) Aber es ist leider so, dass wir da in der Bundesregierung mit dieser Perspektive ein bisschen allein sind, und da bleibt es dann doch dabei, dass wir als Grüne immer noch die pazifistischste Partei sind“.Atzpodien hält dagegen: „Wir konkurrieren in Europa mit anderen Rüstungsherstellern, die teilweise Staatsunternehmen sind oder vom Staat ganz klar unterstützt werden und die mit der Hilfe ihrer Regierungen in weitem Umfang exportieren können und dadurch entsteht ein Gefälle im Wettbewerb. Wenn wir am Ende überhaupt keinen Export machen könnten (..) passt das dann irgendwo nicht. (..) Und was im Moment etwas schmerzt, ist die Tatsache, dass durch die beiden Häuser, die politisch unter grüner Führung sind, viele Dinge einfach liegen bleiben (..) und das fährt die Kunden sauer“.Von einer gemeinsamen europäischen Rüstungspolitik sei man noch weit entfernt, so Atzpodien, weil „es in vielen europäischen Ländern starke Verteidigungsindustrien gibt, die von ihren Regierungen sehr stark auf Exporterfolg konditioniert werden, dass sie sich auf dem Weltmarkt gegen andere teilweise europäische Wettbewerber durchsetzen.“ Deshalb sei „das Interesse der anderen Regierungen an der Vereinheitlichung von Programmen begrenzt“. Eigentlich, so Nanni, „bedarf es eines unglaublich starken politischen Willens insbesondere in den grossen Ländern, die über grosse Verteidigungsindustrien verfügen (..) hier müsste im Prinzip die Vereinheitlichung ansetzen“. Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, so Atzpodien, „müssen diese Hausaufgabe machen, um einen Bebauungsplan zu erstellen. Der EU-Kommission kann man das nicht überlassen.“
12/12/2023 • 51 minutes, 20 seconds
Wer ist noch zuständig für Wahrheit? - Wie kann sich der Journalismus in einer von Sozialen Medien geprägten Öffentlichkeit behaupten? – mit Judith Wittwer und Claus Kleber
Bisher waren professionalisierte Medien als vierte Gewalt im Staat die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Sozialen Medien haben diese Öffentlichkeit aber radikal verändert und parallele Informationsräume mit ihren eigenen Wahrheiten und Fake-news geschaffen. Von daher stellen sich die Fragen: Kommt uns die Wahrheit abhanden? Was ist Wahrheit? - „Wir haben es“, so Judith Wittwer, die Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, „zunehmend mit Menschen zu tun, die sagen, das ist ja alles Ansichtssache, wissenschaftlich erhärtete Fakten werden in Frage gestellt. (..) Aber Meinung ist kein Faktum (..) Unsere Aufgabe ist, (..) den Menschen die Instrumente in die Hand zu geben, um sich ihr eigenes Bild zu machen und auf der Basis von Fakten diese Suche nach der Wahrheit voranzutreiben. (..) Je komplexer die Welt ist, desto grösser das Bedürfnis, Übersicht und Orientierung zu bekommen. (..) Es gibt ein enormes Informationsbedürfnis (..) Nicht nur für Information, sondern für diese Einordnung, die Hintergründe, die Reportage. (..) Die SZ hat heute mehr Abonnentinnen und Abonnenten denn je.“ „Was mich bei aller Zuversicht sehr beunruhigt“, wendet der frühere ZDF-Nachrichtenmoderator Claus Kleber ein, sei, dass “ein punktuelles, anekdotisches Wissen zu spektakulären Vorgängen vielen Menschen ausreicht, um sich ihre Meinung zu bilden“, ohne traditionelle Medien zu benützen. Trotzdem sieht er keine Ablehnung der professionellen Presse und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: „Offensichtlich gibt es auch unter den jungen Leuten, die uns nicht sehen, das Gefühl, dieses Land ist schon besser dran, wenn ein Goldstandard für Information immer im Raum ist. (..) Man weiss, da gibt’s noch eine Stelle, die achtet drauf, dass das nicht ausartet, dass die Regierung uns nicht erzählen kann, was sie will“.„Das wirklich Neue“ durch die sozialen Medien sei aber, so Claus Kleber, „die normative Kraft der Lüge. (..) Der Kontrollmechanismus braucht zu viel Zeit, im Moment ist die hohe Geschwindigkeit der Lüge durch diese Reizbetonung zu einem ganz entscheidenden Machtfaktor geworden“, und „dass dann ganz viele vernünftige Leute sagen, man weiss ja gar nicht, was man da noch glauben soll, und das reicht.(..) Das hat Hannah Arendt festgestellt: Die Potenz des totalitären Staates, mit seiner Propaganda zu lügen, ist nicht, dass die Leute die Lüge glauben, sie liegt darin, dass die Leute gar nichts mehr glauben. Und ein Volk, das nicht mehr weiss, was es denken soll, ist handlungsunfähig. Mit ihm kann ein autoritärer Herrscher machen, was er will. Donald Trump hat bis heute diese Waffe in der Hand und nutzt sie.“Trotzdem sind beide zuversichtlich für das künftige Zusammenwirken des professionellen Journalismus mit den sozialen Medien. „Auch wenn“, so Judith Wittwer, die Öffentlichkeit „halt noch fragmentierter sein wird, (..) bin ich sehr wohl optimistisch, dass wir unverändert ein Publikum finden werden und das wird nicht zwingend immer älter werden (..) Aber ich sehe schon, dass wir viele nicht erreichen werden, und dass diese Kluft und diese Polarisierung fortschreiten.“ Auch Claus Kleber ist optimistisch, „wenn wir die Qualität unserer Leistung in die neuen sozialen Medien (..) einbringen für Menschen, die sich ausschliesslich im Internet informieren und diese kuratierten Produkte wie das Heute Journal oder die gedruckte SZ nicht mehr abfragen.“ Dafür gelte es, einen neuen „Biotop zu entwickeln (..), der der Öffentlichkeit gehört, einen Public Space, für jeden zugänglich (..), und das so schnell und so erfolgreich aufzubauen. (..) Da freue ich mich zu merken, dass da die Ressourcen und die Gedanken hingehen, denn ohne das hätten wir keine Zukunft. Aber ich glaube, die haben wir, weil wir das rechtzeitig erkannt haben.“
11/8/2023 • 50 minutes, 25 seconds
Polen nach der Wahl: Kann Donald Tusk die Spaltung der Gesellschaft überwinden und das Land zum europäischen Rechtsstaat zurückführen? - mit Karolina Wigura und Janusz Reiter
Wahlsieg von Donald Tusk war eine Überraschung. Die Wahlbeteiligung, so die polnische Soziologin Karolina Wigura, war mit fast 75% viel höher als bei den ersten freien Wahlen nach dem Ende des Kommunismus. Dazu haben sich zum ersten Mal die jüngsten Wähler und Wählerinnen, die „schon als Mitglieder der Europäischen Union geboren wurden und eine ganz andere Haltung zum vereinigten Europa haben“, stärker beteiligt als die älteste Generation. - Vor allem für die Opposition, so Janusz Reiter, der frühere polnische Botschafter in Deutschland, war dies „eine Schicksalswahl. (..) Viele haben verstanden, dass es in dieser Wahl auch um sie geht“. Dabei sei die Abtreibung für die junge Generation und die Frauen eine Frage gewesen sei, „in der sie die Politik hautnah“ erleben. Tusk, so Wigura, sei es letztendlich gelungen, „die Vision zu schaffen, dass es möglich ist, in einem besseren Polen zu leben“. Die Machtablösung werde sich aber, so Wigura, höchstwahrscheinlich in die Länge ziehen. Trotzdem, so Reiter, sei, „das Schlimmste, was manche befürchteten, nicht geschehen, dass es nämlich in Polen eine Entwicklung geben könnte wie in Amerika, wie ein Sturm auf das Parlament (..) Das ganze Spiel findet jetzt hinter geschlossenen Türen statt“. Dabei werde es Versuche der Wahlverlierer geben, „doch eine Mehrheit zu schaffen“, die PIS bleibe ja stärkste Partei. „Der Versuch wird fehlschlagen. (..) Das ganze wird aber die Freude über den Wahlsieg verderben.(..) Das wird das Misstrauen vieler Menschen in die Politik verstärken“. Präsident Duda, so Reiter weiter, werde es „der neuen Regierung schwer machen. (..) Wie es heute aussieht, wird er eher eine harte Linie fahren (..) Polen regieren wird keine einfache Sache in einem polarisierten, geteilten Land wie in Amerika“. Obama und Biden hätten versprochen, „das Land zu einigen, aber das Land ist heute nicht geeinigt“.Ist ein Rückbau zum Rechtsstaat möglich? „Es geht nicht um die Rückkehr zum Polen von 2015“, so Wigura, „sondern es geht darum, alles so zu gestalten, dass wir nicht wieder eine Rückkehr zum Populismus haben.“ – Auch für Reiter gehe es „nicht um die Rückkehr zu einem vermeintlichen Goldenen Zeitalter. Es geht um etwas Neues.“ Es gehe auch darum, dass „die Wähler der PIS sich nicht so fühlen, als wären jetzt die Racheengel gekommen“. „Polen bedeutet Spaltung“, so Wigura, „Spaltung und Polarisierung ist unsere Geschichte. (..) Der Populismus funktioniert nur mit Polarisierung, die er verstärkt. Aber damit könnten wir aufhören, das könnte verschwinden. Ob Tusk dazu fähig ist, ich habe meine Zweifel. Auch er hat immer mit dieser Polarisierung gespielt. Ob er sich verändern kann, um die Wähler der PIS zu diesem neuen Polen einzuladen, ich bezweifle das. Das ist die größte Aufgabe nebst der Reparatur der Institutionen, um einen Wandel zu erzielen. Sonst werden wir in vier Jahren, vielleicht schon früher wieder einen Wechsel haben“.Janusz Reiter ist „zuversichtlich, dass es der neuen Regierung gelingt, die uns zustehenden Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu erhalten“, weil Brüssel wisse, „dass diese neue Regierung es ernst meint mit der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit.“. Polen könne sich jetzt wieder in die europäische Politik einbringen. Dafür erwartet Wigura aber von Deutschland, aus der „osteuropäischen und mitteleuropäischen Geschichte zu lernen und die Stereotypen zu überwinden gegenüber Osteuropäern und gegenüber Polen“. Reiter ergänzt dazu: „Wenn ich einen Traum haben könnte, (..) dann, dass der Begriff Osteuropa aus unserer Diskussion verschwindet“, oder dass er „ersetzt würde durch Mitteleuropa oder Ost-Mitteleuropa, das wäre auch schon hilfreich, (..) weil die Benützung des Begriffes Osteuropa ein bisschen auch die Weigerung ausdrückt, zu differenzieren und die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Länder und ihrer Probleme im ganzen Raum östlich von Deutschland zu verstehen“.
10/24/2023 • 40 minutes, 57 seconds
„Wir müssen nicht das Klima retten, sondern uns“ – mit Kira Vinke und Eckart von Hirschhausen
„Was muss denn noch passieren, damit wir endlich vom Denken zum Handeln kommen?“, fragt sich Eckart von Hirschhausen, der die Stiftung "Gesunde Erde - Gesunde Menschen" gegründet hat. Sein Motiv, sich heute fast nur noch in der Klimapolitik zu engagieren, ist: „Du kannst nicht ehrenamtlich die Welt retten, solange andere hauptberuflich sie zerstören.“ Ricarda Winkelmann habe ausgerechnet, dass der Meeresspiegel 58 Meter steigt, wenn wir jetzt so weitermachen. Auf die Frage Eckarts: „Bist du nicht verzweifelt?“, konnte sie nur feststellen: „Zum Verzweifeln haben wir keine Zeit“. „Die Berge fangen an zu bröckeln“, so Hirschhausen weiter, „und wir sehen zu, dass Dinge, die wir für felsenfest gehalten haben, plötzlich anfangen, wirklich zu zerbröseln und Menschen zu bedrohen, wenn der Permafrost, der den Berg zusammenhält, weg ist. (..) Naturgesetze sind nicht verhandelbar. (..) Die Welt wird nie mehr so wie früher, auch wenn man die von vorgestern wählt.“Gibt es positive Nachrichten? Kira Vinke, die Leiterin des Zentrums für Klima und Außenpolitik der Deutschen Gesellschaft für Aussenpolitik, sagt: „Wenn man anfängt, den Weg zu gehen, dann sieht man auch immer mehr Türen, die sich öffnen und Dinge, die gemacht werden können und daraus kann man dann auch wieder Mut, Hoffnung schöpfen“. Von Hirschhausen führt dazu das Montrealabkommen von 1987 auf „und heute geht das Ozonloch noch zu. Das heisst, wenn wir es schaffen, politisch klare Spielregeln aufzustellen“ zum FCKW-verbot, „dann entstehen auch Märkte über Ersatzstoffe (..) Ich bin stolz auf die 20 Männer, die das abgeschlossen haben. Wie sollen Kinder in 30 Jahren auf uns stolz sein? (..) Für mich kommt Optimismus dann auf, wenn ich jeden Tag engagierte Menschen treffe, die in ihrer Situation alle Hebel in Bewegung setzen“. Dabei könne man, so Kira Vinke „der Bevölkerung auch etwas zumuten (..) Der Status quo in Deutschland kann nur geschützt werden, wenn wir massiv umsteuern mit unserem Klimaschutz. (..) Jeder hat Optionen und Möglichkeiten, selbst zu handeln. (..) Die Angst vor klaren Spielregeln für alle ist unberechtigt, dafür gibt es viele Beispiele, die Sicherheitsgurten, das Rauchverbot in Kneipen etc.“.Die UN-Beauftragte für Klimawandel und frühere irische Präsidentin Mary Robinson habe gesagt: „Climate change is a man made problem with a feminist solution“. Das bestätigte auch einmal Bundesrat Leuenberger, der als Verkehrsminister den Tempolimit auf Schweizer Autobahnen erst dann auf 120 km/h reduzieren konnte, als die Frauen die Mehrheit in der Regierung hatten. Luisa Neubauer habe sich zu Eckart von Hirschhausen über alte Männer mit den Worten geäussert: „Ihr haltet euch ja erstaunlich gut, wir brauchen euch, die Jugend wird es ja nicht richten, die Zeit haben wir nicht. Wir haben eine Jahrhundertaufgabe vor der Nase und weniger als 10 Jahre Zeit. In diesen Jahren gibt es noch sehr viele Männer an entscheidenden Positionen. Aber sag mal ganz ehrlich Eckart, erst alles kaputt machen und dann beim Aufräumen nicht helfen, das haben wir doch im Kindergarten anders gelernt“.
10/9/2023 • 45 minutes, 45 seconds
Haben wir eine Chinastrategie? - Mit Wolfgang Ischinger und Janka Oertel
Mit dem langjährigen Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger und Janka Oertel, Verfasserin des Buches „Ende der Chinaillusion“, diskutiere ich über eine europäische Antwort auf die chinesische Herausforderung. Wolfgang Ischinger stellt fest, dass Länder wie Deutschland „massive wirtschaftspolitische, handelspolitische, Investitionspolitische Interessen mit und in China haben“ und die „Sichtweise innerhalb der 27 EU-Mitgliedstaaten zum Thema China ganz sicherlich nicht einheitlich“ sei. Deshalb sei eine Chinastrategie notwendig, „die die Mitgliedstaaten geradezu verpflichten, China gegenüber (..) aber auch über China beispielsweise mit den USA mit einer Stimme zu sprechen„. Dafür bestehe, so Oertel, „eine unglaubliche deutsche Verantwortung, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen.“ Auch die Beziehungen mit den USA werden, so Ischinger, in Zukunft von der Chinafrage geprägt. Er fordert deshalb besonders für die Taiwanfrage „ein höchstrangige Konsultationsmaschinerie (..), um sicherzustellen, dass unsere europäische Stimme, so wie wir sie denn hätten, in Washington erstmal ernsthaft zur Kenntnis genommen werden müsste“, damit „wir uns nicht gegenseitig strategische Überraschungen präsentieren.“ Denn, so Oertel, die Amerikaner würden „einseitige Entscheidungen treffen, sofern die Europäer nicht in der Lage dazu sind, mit einer gemeinsamen Antwort zu kommen.“Kann China noch ein Partner sein? „Ich glaube nicht“, so Oertel, „dass es noch eine Frage gibt, in der wir echte Partner noch sein können“. Sie glaube aber, „dass wir sehr wohl mit China zusammenarbeiten können, in verschiedenen Feldern, weil es auch Interessenskongruenzen geben wird. Aber wir sind keine Partner mehr, auch als chinesischer Perspektive werden wir nicht als Partner betrachtet. Chinas Partner ist momentan Russland (..) Die Hebelwirkung, die wir haben gegenüber China ist aber gerade grösser, als sie noch vor ein zwei Jahren war. Wir sind eigentlich immer noch in einer Position relativer Stärke. Wir nutzen das nur nicht aus, und die Zeit spricht auf lange Sicht gegen uns. Wenn wir ein Einhalten von Regeln wollen, dann müssen wir die mit Sanktionsmassnahmen belegen.“Also klare Kante gegen China, obwohl eine Million deutscher Arbeitsplätze vom chinesischen Markt abhängen? Oertel hat Vertrauen in die Anpassungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Man dürfe nicht „aus der Gegenwart in die Zukunft eine Realität extrapolieren, die es nicht geben wird“ weil „dieser Markt in weiten Teilen immer weiter zusammenschrumpft“, wie das chinesische Siemens Geschäft im Windbereich zeige, in dem „sie keine Chancen mehr haben gegen lokale Konkurrenten. Ein Markt, der möglicherweise gegen null geht, den können und müssen wir ersetzen weltweit.“Ist ein europäisches Umdenken möglich? Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, so Oertel, „dass wir in der Lage sind zu handeln, wenn wir die Dringlichkeit verstanden haben.“ Seit den 90er Jahren habe sich Deutschland außenpolitisch, so Ischinger, „in eine Liebesaffäre mit dem Status quo begeben. Diese Liebesaffäre ist jetzt erkennbar vorbei, aber es gibt leider in unseren politischen Eliten Leute, die sich sehr schwertun (..) Man hängt immer noch ein bisschen dran, das ist unser Problem (..) Wenn wir bereit sind zu verstehen, dass sich die Welt vor unseren Augen dramatisch verändert, dann taucht folgende Frage auf, wann war es das letzte Mal, dass Deutschland bei der Frage der Gestaltung des europäischen Integrationsprojekts eine grosse Initiative vorgelegt hat. Das letzte Mal war 1989 die Idee des Euro. Seither gibt es keine deutsche oder deutsch-französische grosse europäische Initiative (..) Es ist höchste Zeit, dass Deutschland ihre natürliche Führungs- oder Mitführungsrolle in Europa als solche begreift (..) und Initiativen mit-anstößt, um die EU wetterfest zu machen (..) Das können wir nicht Estland, Portugal und Malta überlassen“.
9/25/2023 • 49 minutes, 19 seconds
Ukraine: Wird die westliche Unterstützung brüchig? – Mit Ralf Fücks und Claudia Major
Mit Ralf Fücks, Leiter des Zentrums für Liberale Moderne und Claudia Major, der Forschungsgruppenleiterin des Bereichs Sicherheitspolitik der SWP diskutiere ich über die brüchige Zukunft der westlichen Allianz im Ukrainekrieg.Ralf Fücks ist von seinem jüngsten Ukrainebesuch zuversichtlicher zurückgekommen, „sowohl hinsichtlich der militärischen Situation, wo es im Westen vielfach eine völlig überzogene Erwartung an Geschwindigkeit und Durchschlagskraft der ukrainischen Gegenoffensive gibt. (..) Die Stimmung im Land ist eine Mischung aus Ernüchterung, auch Erschöpfung (..), trotzdem ist die Kampfbereitschaft und der Wille der Selbstbehauptung ungebrochen.“ Es stelle sich, so Claudia Major „die Frage, ob die Ukrainer noch Reserven haben und kommen sie bis zum Asowschen Meer durch. (..) Für ihren weiteren Erfolg hängen sie von der westlichen Unterstützung ab.“Für Ralf Fücks geht es um „unsere ureigenen Interessen, das ist der Dreh- und Angelpunkt, der bei uns noch nicht richtig angekommen ist, dass nämlich die Ukraine für die europäische Sicherheit und für die Zukunft der europäischen Demokratie kämpft. (..) Der Ausgang dieses Krieges wird eine Weichenstellung sein für die weitere internationale Entwicklung (..) Wenn der Westen da versagt, dann kommt noch sehr viel mehr ins Rutschen als nur die Ukraine“. „Im Endeffekt“, so Claudia Major, „werden Grundsatzfragen verhandelt: Wie gehen Staaten miteinander um, und muss man sich an Regeln halten.“.Es gebe im Westen, so Ralf Fücks „keine Entscheidung bisher, wie dieser Krieg enden soll. Das ist die strategische Archillesferse (..), die Allianz hat nicht wirklich definiert, was unser politisches Ziel ist. Soll die Ukraine gewinnen oder setzten wir auf eine Erschöpfung beider Seiten, die dann in einen Waffenstillstand mündet, der möglicherweise dann zu Verhandlungen führt. (..) Diese Unentschiedenheit“ sei „das größte Risiko“. Dabei spiele „Russland ganz bewusst auf Zeit“.Wie reagiert die Allianz, wenn Putin plötzlich offen für einen Waffenstillstand wäre? Major: „Das würde die westlichen Unterstützerstaaten vor eine enorme Zerreißprobe stellen. Ich kann mir die politischen Stimmen vorstellen, die das begrüssen“. Russland habe seit 2014 „seine Position nicht verändert. (..) Solange die Regierung, die Gesellschaft und der Staat zutiefst militarisiert sind, solange wird es mit einer solchen russischen Regierung keine Stabilität und keinen glaubwürdig belastbaren Frieden geben. Dann ist jeder Waffenstillstand lediglich eine Atempause. (..)Die politische Frage käme ja nach einem Waffenstillstand erst auf den Tisch“. Ebenso auch die Frage künftiger Grenzen. „Wenn wir in Europa jetzt anfangen, Grenzen zu diskutieren, ist das die Büchse der Pandorra schlechthin. Völkerrechtlich anerkannte Grenzen sind auch friedenspolitisch eine Errungenschaft und sie sind auch von der Sowjetunion (..) mehrfach anerkannt worden“. „Für die Ukraine“, so Fücks, „wäre ein solcher Waffenstillstand fatal. Das Land wäre weiterhin in einer permanenten militärischen Bedrohungssituation (..und) wirtschaftlich dramatisch geschwächt.“ Für die Zukunft äußert Claudia Major ihre „grosse Sorge, dass die westliche Unterstützung langfristig abnimmt, entweder aufgrund der Wahlen in den USA, aufgrund von europäischen Wahlen (..) und dass die Ukraine nicht die Hilfe bekommt, die sie braucht. (..) Die Ukraine wird trotzdem weiterkämpfen. Es droht generell ein langwieriger, sehr blutiger, sehr brutaler Konflikt“. Trotzdem schliesst Major etwas optimistischer: „In den letzten 18 Monaten hat die Ukraine es geschafft, über die Hälfte der von Russland eroberten Gebiete zu befreien, weil sie eine enorm beeindruckende Kampfbereitschaft und einen enormen Mut gezeigt haben, weil die westlichen Länder (..) über sich hinausgewachsen sind (..) Man kann das auch als positiven Anreiz sehen und sagen: Es ist möglich.“
9/11/2023 • 46 minutes, 2 seconds
Bedroht der Kampf um Gleichberechtigung die Meinungsfreiheit? – mit Chenoa North-Harder und René Pfister
Mit der deutschen Afro-Amerikanerin Chenoa North-Harder, die an der Schauspielhochschule in Babelsberg studiert, und René Pfister, USA-Korrespondent des SPIEGELs und Verfasser des Bestsellers „Ein falsches Wort“ diskutiere ich, wie im Kampf gegen Diskriminierung liberale Grundsätze verletzt werden können.Ihre eigene Diskriminierung erlebte North-Harder als Identitätskrise: „Für mich war es vor allem in jungen Jahren sehr schwer in Deutschland, weil ich nie dazugehört habe als Kind.(..) Dass die Grundannahme von jedem, der mit mir redet, immer ist, dass ich nicht Deutsche bin, ist einfach verletzend“.Bedeutet Diskriminierung, dass die privilegierten alten weissen Männer diese Diskriminierung gar nicht verstehen können und sich deshalb gar nicht dazu äussern sollen und dürfen? North-Harder hält das für Humbug, denn „durch eure Sichtweisen, könnte ich versuchen zu verstehen, wie es dazu kommt, dass ich erlebe, was ich erlebe (..). Das einzig Wichtige ist aber, dass man verstehen muss, dass man diesen Schmerz nicht nachvollziehen kann, vor allem den systematischen Schmerz, der sich über Generationen zieht“.Soll die Gleichberechtigung verordnet werden, zB durch das Gendern in öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und TV-Anstalten, in Zeitungen oder für staatliche Dokumente? „Wieso denn nicht?“, findet North-Harder, „Ist es so anstrengend zu gendern und dadurch Menschen mit einzuschliessen, die sich sonst ausgeschlossen fühlen und dadurch verletzt sind?“ - Pfister ist zwar für die Nennung beider Geschlechter – „Lehrer und Lehrerinnen“ - , aber gegen den Genderstern, weil die Leute es nicht wollen und das Gendern eine politische Verortung sei und in der Sprache einer akademischen Elite viele Leute ausschließe. Was macht man mit der historisch belasteten Erbschaft, wie geht man in Berlin mit der Mohrenstrasse um? Pfister findet, dass man im öffentlichen Raum keine Namen mit klarer rassistischer Konnotation behalten solle, wenn dazu unter den Betroffenen Konsens bestehe. Dagegen North-Harder: „Strassennamen sollten auf gar keinen Fall geändert werden, das ist Teil der Geschichte Deutschlands. (..) Es wäre schade, so eine Geschichte einfach verschwinden zu lassen, wenn sie doch so viel darüber aussagt, was passiert ist. Ich fände es viel interessanter, mit einem Schild zu sagen ‚Kuck mal, diese Strasse wurde so benannt‘ oder ‚diese Statue wurde für einen Sklaventreiber aufgestellt‘.“ Kulturelle Aneignung: Darf ein Weißer Othello spielen oder eine afrikanische Frisur tragen? „Warum nicht?“, sagt North-Harder, aber “wenn sich das zB in die Modebranche reinträgt, wenn ich eine Vogue sehe und da ist jemand mit einer traditionellen Haartracht oder Kleidung aus Ghana und diese Person ist aber weiss, dann finde ich es problematisch.“Das Kernargument seines Buches ist für Pfister, dass „nicht nur in den USA sondern auch in Europa ungefähr die Hälfte der Menschen sagen, sie können nicht mehr offen darüber reden, was sie denken, nicht mehr offen ihre Meinung sagen.(..) Und was man in Amerika über die letzten 15-20 Jahren erlebt hat, ist, dass aus einer berechtigten Frustration darüber, dass Gleichberechtigung nicht da ist, versucht wurde, den liberalen Rechtsstaat und die Prinzipien der Meinungsfreiheit zumindest zu hinterfragen.", und das sei gefährlich. "Und was wir im Moment in Amerika sehen, ist, dass die Rechte damit beginnt, ihre staatliche Macht dafür einzusetzen, um das, was sie auf der anderen Seite für falsch hält, richtig zu bekämpfen“.North-Harder: „Es gab schon immer Menschen, die Angst davor hatten, ihre Meinung zu äussern und dass sie dann diskriminiert wurden. Ich glaube, das Problem ist jetzt, dass die Menschen, die das immer durften, ohne dafür belangt zu werden, (..) jetzt halt erfahren, dass es diesen Umschwung gibt und dass jetzt diese Menschen sich selbst in ihrer Meinungsäußerung bedroht fühlen.“
7/27/2023 • 45 minutes, 8 seconds
„Wo steht Europa in der Konfrontation zwischen den USA und China?“ - mit Franziska Brantner und Alexander Graf Lambsdorff
Mit Franziska Brantner, Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Alexander Graf Lambsdorff, künftiger Deutschen Botschafter in Moskau, diskutiere ich darüber, wie sich Europa globalpolitisch behaupten kann. Brantner, unterstreicht, dass wir „im letzten Jahr erlebt haben, wie wichtig die transatlantische Partnerschaft ist (..) als klare Verankerung in dieser internationalen Welt“. Das bedeute aber, „dass wir als Europäer auch gezwungen sind (..) mehr eigene Handlungsfähigkeit zu erlangen.„ Gegenüber China sei „eine gute Balance zu finden, zwischen dem Anspruch, bei den internationalen Themen kooperieren zu können, Stichwort Klimaschutz, aber eben auch andererseits, sich weniger verwundbar aufzustellen. (..) Für unsere eigene Sicherheit müssen wir hier ein De-Risking machen.“ Lambsdorff stellt grundsätzlich fest: „Das Geschäftsmodell der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung war billiges Gas aus Russland, ein toller Absatzmarkt in China, die Amis garantieren unsere Sicherheit und wir bezahlen 1,2% für die Bundeswehr. Diese Geschäftsmodell ist tot. (..) Aber wenn wir uns von der chinesischen Abhängigkeit befreien wollen, dann ist das viel grösser, viel umfassender und unter Umständen auch teuerer“ als im Falle der Energieabhängigkeit von Russland. Und wenn das sehr rasch erfolgen müsse, „dann hätten wir wirklich eine dramatische Lage. (..) Das Signal der Politik an die Wirtschaft muss sein: (..) Stellt euch bitte drauf ein, und wenn es schief geht, (..) dann kommt bitte nicht mit dem Hut in der Hand nach Berlin und bettelt um das Geld der Steuerzahler“.Kann sich Europa globalpolitisch in Zukunft behaupten, was eine selbständigere Politik und eine Vertiefung der Integration verlangt, vor allem angesichts der Gefahr, für das transatlantische Verhältnis falls Trump 2024 siegt. Dazu Lambsdorff: „Sind wir in Europa bereit dazu, können wir das? Ich bin da nicht sehr optimistisch.(..) Das, was man an europäischem Spirit in Brüssel mit Händen greifen kann, (..) ist in den europäische Hauptstädten, wenn überhaupt, nur in homöopathischen Dosen vorhanden ist“.Brantner ist optimistischer:„Mein Eindruck ist, dass gerade im europäischen Verteidigungsbereich im Moment soviel passiert wie Jahrzehntelang nicht. (..) Wir sind auch daran, eine europäische digitale Souveränität aufzubauen. (..) Ich bin immer wieder überrascht, wie gut wir es im letzten Jahr geschafft haben, mit Blick auf die Ukaine dann doch zu Einigkeit zu finden. (..) Das Gute ist, dass wir jetzt in all diesen Prozessen gesehen haben, dass dort, wo früher eventuell Blockaden aus Polen oder den ehemaligen Visegradstaaten kamen, wir jetzt eine Kooperation haben (..) Ungarn ist meistens trotzdem noch dagegen, aber der Rest kooperiert und sieht die Notwendigkeit, dass die EU auf Krisen besser vorbereitet sein muss. Und das ist ein fundamentaler Shift seit Beginn des Ukrainekrieges, dass wir ganz andere Verhandlungsdynamiken in Brüssel haben. Im Fazit sind beide Gesprächspartner optimistisch. Lambsdorff glaubt, „dass wir langsam und allmählich und ich hoffe auch im erfolgreichen Kampf gegen die Nationalisten in den Mitgliedstaaten es schaffen, Europa nach vorne zu bringen, (..) dass wir gemeinsam mit den grossen Demokratien der Welt zusammenzustehen (..) Für mich ist ein stärkeres Europa immer noch ein transatlantisches Europa. Wenn es hart auf hart kommt, dann funktioniert der europäische Zusammenhalt, siehe Sanktionen, und es funktioniert der transatlantische Zusammenhalt, siehe die amerikanische und kanadische Beteiligung an dem, was wir hier tun.“ – Brantner begründet ihren Optimismus „in der Handlungsfähigkeit, die wir in der schwersten Krise Europas im letzten Jahr gesehen haben. (..) Wenn wir in solchen Momenten die Handlungsfähigkeit beweisen, haben wir gute Zuversicht, auch zukünftige Krisen gut zu meistern.“
7/10/2023 • 39 minutes, 52 seconds
Zerstört der zunehmende Hass gegen Amts- und Mandatspersonen die Demokratie? - mit Sawsan Chebli und Jörg Müller
Mit Sawsan Chebli, der ehemaligen Staatssekretärin im Berliner Senat, und Jörg Müller, Chef des Verfassungsschutzes von Brandenburg diskutiere über diese bedrohliche Entwicklung: Gemäß Bundeskriminalamt haben sich zwischen 2018 und 2021 die Straftaten gegen Amts- und Mandatspersonen bundesweit mehr als verdreifacht. Jörg Müller hat eine entsprechende Studie in Brandenburg durchgeführt: „Die Befunde sind leider so, wie wir es erwartet haben, sehr alarmierend.“ „Wir haben“, so Müller „eine breite Radikalisierung auch in der Sprache. (..) Früher war man der Gegner in der politischen Debatte, heute ist man gleich der Feind.“ Man habe über lange Zeit wahrnehmen können, dass „immer zunächst die Verrohung der Sprache kommt und dann meistens Taten folgen.“ Die Taten folgten: „Wir hatten die Attentate von Halle und Hanau, wir hatten den Mord an Walter Lübke.“Dazu Sawsan Chebli: „Ich habe da auch viele Morddrohungen bekommen. (..) Ich hatte nicht das Gefühl, dass Facebook mich schützt, dass der Hass gelöscht wird. (..) Vor allem weiss ich, dass es für meine Familie noch schlimmer ist als für mich (..) Die Betroffenen lernen, damit umzugehen (..) Aber die Menschen um einen herum, die belastet das teilweise viel, viel stärker“. Da habe sie sich „gefragt, lohnt sich das alles, ich bin dann zu dem Schluss gekommen, ja es lohnt sich, ich möchte nicht schweigen, ich möchte nicht kapitulieren. (..) Mein Wunsch wäre es, dass das Thema raus aus der Nische kommt, dass alle kapieren, was es bedeutet, was dieser Hass mit uns als Gesellschaft tut“. Was Müller am schlimmsten findet „ist, dass wir diese Fähigkeit zum Diskurs verlieren, (..) die Fähigkeit, sich auch mal zu streiten. Und am Ende einen Konsens zu erzielen.“ Das führe, so Müller, zum „Problem, dass es heute immer schwieriger ist, jemanden zu finden, der sich überhaupt noch ehrenamtlich engagieren möchte, (..) vor allem auf der kommunalen Ebene. (..) Das heisst, wir haben eine immer weniger breite Aufstellung der Demokratie. (..) Auf den Markt kommen natürlich andere, (.. von der) AfD, die sich selbst als Opfer geriert haben, (..) die wollen diese Lücken ja füllen.“ Deren Ziel sei es, „die Meinung zu beeinflussen, Sie rauszukriegen, Sie rauszubekommen aus der Diskussion und Sie nicht mehr wahrnehmbar zu machen, das wäre der größte Verlust.“„Die Social Media wirken wie ein Brandbeschleuniger “ so Chebli. - „Wir haben es im Bereich Social Media nicht geschafft“, führt Müller fort, „eine eigene Ethik, eine eigene Moral in den sozialen Netzwerken zu entwickeln“. (..) „Wir müssen aus der Anonymität raus.“ (..) Wir müssen ja nicht zusehen, dass die grossen Konzerne viel Geld verdienen, aber nicht helfen bei der Durchsetzung der Regeln.(..) Wir brauchen Kennzeichnungspflicht. Und wir müssen die grossen Anbieter dazu zwingen, (..) dass wir die Identifizierungsmöglichkeit schaffen.“ So argumentiert auch Chebli: „Wir haben es verschlafen in den letzten Jahren, Antworten zu finden auf diese gigantische Macht der US-Netzwerke“ mit ihren Algorithmen, die bewirken, „dass Hass nach oben getrieben wird“. Das sei das Geschäftsmodell von Facebook, was die Whistleblowerin Frances Haugen nachgewiesen habe.Jörg Müller berichtet von einer Podiumsdiskussion, wo ein Programmierer aus China gesagt habe: „‚Warum habe ich eigentlich keinen Auftrag, Moral zu programmieren. Ich könnte das. Ich müsste der Moral und hohen ethischen Werten höhere Punktwerte geben. Ich gebe aber Hass und Gewalt höhere Punktwerte.‘ Wenn wir das wissen, müssen wir die grossen Konzerne einfach dazu zwingen. (..) Der Anbietungsort muss entscheiden, welche Regeln gelten“. Chebli sieht dafür Möglichkeiten im Netzwerkdurchsetzungsgesetz: „Wir können das zurückholen mit einer Politik, die verstanden hat, dass sie reagieren muss und dann auch etwas dafür tut, dass ihre Gesetze dann durchgesetzt werden“, denn: „Die Zukunft unserer Demokratie wird im Internet verhandelt“.
6/16/2023 • 46 minutes, 51 seconds
Der Sieg des Sultans – Wohin steuert die Türkei ? - Mit Michael Thumann und Hürcan Alsi Aksoy
Mit dem langjährigen ZEIT-Korrespondenten in Istanbul und Moskau Michael Thumann und der Leiterin des Zentrums für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin Hürcan Alsi Aksoy diskutiere ich über Erdogans Wahl und die Zukunft der Türkei.Thumann beschreibt die Türkei als ein „gespaltenes Land“, das einen „polarisierten Wahlkampf mit sehr viel Hässlichkeiten“ erlebt habe. Dabei hätte die Wahl „eigentlich ein Plebiszit und eine Rechenschaftsablegung sein müssen über mindestens fünf Jahre desaströser Wirtschafspolitik mit bewusst herbeigeführter Inflation“. „Die Opposition hatte echt gehofft, es diesmal umzukippen“, so Hürkan Aksoy. Aber Erdogan hat gesiegt. – Warum? Das habe, so Thumann, sehr viel mit Identität zu tun: “Wer bin ich und was ist meine Biographie?“ Das Votum für Erdogan sei „eine Wahl für die eigene Biographie“ gewesen. „Ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung identifiziert sich geradezu biographisch mit Erdogan: Sein Aufstieg in den 2000er-Jahren, das war mein Aufstieg, da ging es mir plötzlich besser (..) Und all diese Identitätsfragen von Herkunft und Glaube (..) spielten eine wahnsinnig wichtige Rolle.“ Das reiche aber noch „nicht für 50%. Ich glaube, dass es Erdogan dann gelungen ist“ im Wettlauf „um die Wechselwähler die nationalistische Karte zu spielen.“ Dabei habe Erdogan, so Aksoy, „eine kohärente Wahlstrategie erarbeitet“, quasi „ein islamistisch-nationalistisches Bündnis“, das gab der Wählerschaft „ein klares Bild“. Vom „ganz heterogenen Bündnis“ des oppositionellen Sechsertisches mit „Sozialdemokraten, Nationalisten, Islamisten und Liberalen“, glaubte man nicht, dass sie „das Land führen könne“.Bei aller Enttäuschung nach den Wahlen, ist es nicht besser, dass jetzt Erdogan selbst mit der von ihm angerichteten Wirtschaftskrise fertig werden muss, als dass eine siegreiche Opposition daran scheitern würde? Thumann möchte nicht ausschließen, „dass sich die Türkei in einem stetigen Abwärtstrend befinden wird und daraus Chancen für die Opposition entstehen. Die Regierung verfüge aber, so Aksoy, quasi über ein Informationsmonopol, die „Medienlandschaft wird ja zu 90% von Erdogan dominiert“. So sei es "wahnsinnig schwierig für die Opposition, ihre Information rüberzubringen“.Wird die Repression jetzt zunehmen? Aksoy geht davon aus, dass die Regierung ganz gezielt gegen Oppositionspolitiker vorgehen werde, ebenso gegen die zivilgesellschaftlichen Organisationen, besonders gegen jene von Frauen und LGBTQ. Das Gefühl, „dass das Land vom Westen allein gelassen wird, herrscht in größten Teilen der Bevölkerung. Nach Umfragen sind 65-70% anti-westlich ausgerichtet. Und ich befürchte, nach der Wahl wird das noch weiter vertieft werden. (..) Erdogan wird seine nationalistische, islamistische, antiwestliche Rhetorik“ verstärken. Es sei aber möglich, „dass sich Erdogan nochmals nach Westen orientieren kann, (..) weil er unbedingt Auslandsinvestitionen braucht.“ So könnte er Mehmet Simsek, den früheren Wirtschaftsminister zurückholen, um „bei internationalen Partnern Vertrauen zu schaffen.“ (MS wurde inzwischen zum neuen Finanzminister ernannt.)Im Ukrainekrieg gelingt Erdogan, so Thumann, eine erfolgreiche Balance zwischen dem Westen und Russland, und stehe „nach wie vor ziemlich gut da als ein möglicher Vermittler mit dem Vorteil, Anrainer Staat und NATO-Mitglied zu sein“, ohne an westlichen Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. So wird er sich dem Westen weiterhin als nützlicher Partner für die regionale Stabilität anbiedern. Bundeskanzler Scholz hat ihm ja nicht nur gratuliert, sondern ihn auch noch nach Berlin eingeladen. Diese positive Haltung schaffe aber, so Aksoy, ein „wahnsinnig schlechtes Gefühl bei den oppositionellen liberalen Kräften in der Türkei, die sind noch antiwestlicher geworden, die glauben tatsächlich, dass die EU den Machterhalt von Erdogan wollte“.
6/4/2023 • 49 minutes, 47 seconds
Wird Europa bis 2050 klimaneutral? - Mit Günther Oettinger und Susanne Nies
2019 legte die EU mit dem „Green Deal“ das Ziel fest, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Bis 2030 sollen dafür die Treibhausemissionen im Vergleich zu 1990 um 55% reduziert werden („fit for 55“). Im Zentrum steht der Energiesektor, der heute für 3/4 der Schadstoffemissionen verantwortlich ist. Putins Krieg hat das ambitiöse Ziel zusätzlich belastet. Für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen (heute 70% der Primärenergie) soll bis 2035 die EU-Stromproduktion um ein Drittel gesteigert und bis 2050 sogar verdoppeln werden. Das verlangt einen massiven Ausbau des Stromanteils am EU-Energiemix von heute einem Viertel auf 60% bis 2050. Wie – oder ob – die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden kann, diskutiere ich mit Günther Oettinger, dem früheren Vizepräsidenten der EU-Kommission und EU-Energie-Kommissar, und der Politikwissenschaftlerin, Energie- und Klimafachfrau Susanne Nies. Beide äussern sich trotz vieler offener Fragen zuversichtlich. Als europaweites Projekt hängt Klimaneutralität von der koordinierten Lösung zahlreicher wirtschaftlicher, technischer, administrativer und politischer Probleme ab. Das alles funktioniere, so Oettinger, „nur europäisch, es gibt viel zu viele nationale Alleingänge und Egoismen“. Zu vier der diskutierten Problemfelder:Heizen verursacht 1/6 des CO-2-Aussstosses in Deutschland. Deshalb ist geplant, die Zahl der energetischen Gebäudesanierungen bis 2030 zu verdoppeln und Heizungen auf Wärmepumpen umzustellen. Die Heizungsdebatte sei deshalb, so Nies, „absolut richtig, aber die Art wie es vermittelt wurde, war eine absolute Katastrophe, das kam rüber als Verbot.“ Deshalb argumentiert auch Oettinger generell für „marktwirtschaftliche Lösungen im Regelfall“, insbesondere durch eine CO-2-Bepreisung (ETS) und für „Gebote und Verbote nur im Ausnahmefall.“Das Übertragungsnetz wird zu einem zentralen Engpass des Energieumbaus. „Die Effizienz unserer Stromnetze ist eine Katastrophe, weil Technologien nicht eingesetzt werden, um Stromnetze optimal zu nutzen“, so Nies. Entscheidend für die Konsumsteuerung seien Smart-Meters, damit der Verbrauch in Kenntnis der Kosten erfolgt. „Wie kann es denn sein, dass in diesem Land alle Stromzähler fast alle analog sind.“ Auch Oettinger kritisiert: Durch den Ausbau der Wärmepumpen und E-Mobilität werden „unsere Bestandsnetze in den Städten und Gemeinden völlig überlastet.“ Für den grenzüberschreitenden Stromaustausch ist Oettinger hingegen optimistischer: „Wir sind heute viel weiter als vor 20 Jahren“, das habe sich vor allem in der Zusammenarbeit mit Frankreich im letzten Winter gezeigt.Energie-Binnenmarkt und Ukraine: Ein erfolgreicher „Green Deal“ verlangt die Vollendung des Energiebinnenmarkts. Da sei, so Nies, „schon sehr viel passiert (..) Europa ist immer dann vorangekommen, wenn es eine grosse Krise gab.“ Als eindrückliches Beispiel führt Oettinger die Ukraine und die „grandiose Ingenieurleistung (auf), dass man mitten im Krieg die Integration ins europäische Stromnetz geschafft hat und es funktioniert.“ Trotz der russischen Angriffe, glaube er, „dass die Ukraine in diesem Krieg bezüglich Strom und Gas keinen grossen Schaden nehmen wird“. Trotzdem, so Nies, „sind die grossen Umspannwerke kaputt (..) und wir sehen in der Ukraine 500´000 10-MW-Dieselgeneratoren und das ganze Land stinkt nach Diesel“.Ohne Rahmenabkommen bleibt die Schweiz ohne Stromabkommen. Das gefährdet die Versorgungssicherheit und führt zu hohen Kosten. Das ausgehandelte und dann von Bern abgelehnte Rahmenabkommen sei, so Oettinger, eine Chance, ein Zeitfenster gewesen, „das Zeitfenster ist zu. Bis zu den europäischen Wahlen (Juni 2024) wird gar nichts mehr geschehen. (..) Mit gutem Willen könnte man 2025 ein Rahmenpaket mit einem Stromabkommen beschliessen. Besser spät als nie.“ Bis dann „Notlösungen, Übergangslösungen, kein effizientes Europa“.
5/26/2023 • 41 minutes, 11 seconds
“Frau, Leben, Freiheit !” – Führt die iranische Protestbewegung in die politische Blockade oder steht das Land in einem revolutionären Umbruch? - mit Parastou Forouhar und Ali Fathollah-Nejad
Mit der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar und dem deutsch-iranischen Politologen Ali Fathollah-Nejad diskutiere ich über die iranische Protestbewegung. Seit dem 16. September, als die staatlichen Sicherheitskräfte die verhaftete Kurdin Mahsa Amini ermordet haben, lehnen sich im ganzen Land Menschen aus allen Schichten und Regionen - an vorderster Front Frauen, Jugendliche und Arbeiter - gegen das Regime auf. Trotz massiver Repression kommt das Land nicht zur Ruhe. Der Auslöser war die Verweigerung von Mahsa Amini und anderer Frauen, sich dem Kopftuchzwang zu unterwerfen, aber sehr rasch eskalierte der Konflikt zu einer grundsätzlichen Konfrontation mit der religiös begründeten Herrschaft des Regimes. Die geballte Wut der Bevölkerung gegen das Regime äusserte sich schon früher in grösseren Demonstrationen, die aber – im Gegensatz zu heute – rasch niedergeschlagen wurden. Die Konfrontation hat sich zusehends verhärtet. Kaum jemand glaubt noch an eine Lösung innerhalb des Systems. Diese breite Desillusionierung führt aber kaum mehr zu Resignation, sondern - trotz brutaler Repression mit Hunderten Toten und Zehntausenden Verhafteten - zu einer Aufbruchstimmung mit Hoffnungen auf eine grundsätzliche Veränderung, auch wenn diese nicht absehbar ist. Besonders unter jüngeren Menschen habe sich – so Parastou Forouhar – das Wertesystem verändert. Sie sahen sich lange gezwungen, in der Oeffentlichkeit die restriktiven Regeln des Staates des zu befolgen und fühlten sich dabei als Mittäter, weil sie sich nicht genügend gewehrt hätten. Dabei versuchten sie nur, in einer falschen Situation richtig zu leben, anständig, lebensbewahrend, um ihre menschliche Würde zu bewahren. Heute sind vor sie nicht mehr bereit, dieses Doppelleben, diese Doppelmoral mitzumachen. Sie rebellieren und versuchen, sich selbst zu sein. Die Avantgarde der Bewegung sind die Frauen, die ihre Selbstbestimmung einfordern und mit dem verkrusteten Regime alter Männer kollidieren. Diese identifizieren sich nur noch mit der Vergangenheit und verweigern diese Selbstbestimmung. Dabei fällt der sexuelle Subtext der Konflikte auf, wenn auffallend attraktive junge Frauen ermordet werden und massive Vergewaltigungen zum Repressionsinstrument des Regimes geworden ist, das der toxischen Männlichkeit sexuell frustrierter Schlägertrupps freien Lauf lässt. Die Positionen verhärten sich zusehends, die eine Seite zeige sich immer schöner, lebensbejahender, und die andere Seite benehme sich wie Untote, wie Zombies. „Ihre Zeit ist vorbei, die sind vorbei, aber sie haben es noch nicht kapiert und zehren von der Lebensenergie der anderen“. Als Beispiel führt Forouhar einen Widerstandskämpfer auf, der vor der Vollstreckung seines Todesurteils als seinen letzten Willen verlangte, dass die Menschen an seinem Grab Musik spielen und tanzen sollen – beides verboten - nur tanzen und glücklich sein, keine Korantexte! Die zentrale Parole der Bewegung: „Frau Leben Freiheit“ markiere eine absolute Abkehr vom Gottesstaat, lebensbejahend und säkular.Die Kluft ist irreversibel geworden, beide Seiten sind auf Kolisionskurs und das System bietet keinen Ausweg aus der Blockade. Den Konflikt bezeichnet Ali Fathollah-Nejad als einen langfristig revolutionären Prozess, der schon heute eine neue Qualität erreicht, weil er schichtübergreifend alle Regionen und ethnischen Minderheiten mobilisiere. Wirklich revolutionär würde er aber nur, wenn er sich – was nicht auszuschliessen sei - zu einer breiten Massenbewegung entwickle, wenn sich die Streiks ausdehnen und sich die Risse im Machtapparat vertiefen. Für das letzte sei die Haltung Europas wichtig, wenn zum Beispiel die EU die iranischen Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzen würden, um das klare Signal zu setzen, dass das System keine Zukunft hat. Das iranische Regime habe sich immer nur dann bewegt, wenn der Druck immens war, von innen und von aussen durch harte Sanktionen.
4/17/2023 • 45 minutes, 51 seconds
„Kann nach Jahrzehnten von Krieg und Gewalt im Irak und in Algerien ein Weg zu innerer Stabilität und nationaler Verständigung gefunden werden.?“ – Mit Isabelle Werenfels und Daniel Gerlach
Mit Isabelle Werenfels, der Nordafrikaspezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, und Daniel Gerlach, dem Buchautor, Orientalisten und Filmproduzenten, diskutiere ich über beide Staaten in ihrer heutigen politischen Lage. Der Vergleich bietet sich – trotz geographischer Distanz – durch eine Reihe von Parallelen an: Beide sind mit einer Bevölkerung von je 43 Millionen gleich gross. Beide waren in den letzten Jahrzehnten Opfer von politischer Gewalt: Kriege, Bürgerkriege, Repression und Terrorismus haben in beiden Ländern wohl je über eine Million Todesopfer gefordert und haben damit die Gesellschaft zerrüttet: In Algerien durch den Unabhängigkeitskrieg 1954-62 und den Bürgerkrieg 1992-2002 - im Irak durch Saddams Angriffskrieg gegen den Iran, seine Repression gegen die Kurden und Schiiten, die verheerenden Folgen des UNO-Programms Oil for Food, durch den US-Angriffskrieg 2003 und den Terrorismus des IS-Staates 2014-2017. Dabei wurden beide Staaten durch den islamistischen Terror existentiell gefährdet: Algerien im Bürgerkrieg durch die islamistische „Front islamique du Salut“ (FIS), der Irak durch den „Islamischen Staat“, der erst 2017 von einer breiten nationalen Allianz mit amerikanischer und iranischer Unterstützung besiegt werden konnte. In beiden Staaten stützt sich die staatliche Macht auf die Streitkräfte, auf die Armee in Algerien, auf die Milizen im Irak. Entscheidend sind aber die grossen Öl- und Gaseinnahmen, die es der Regierung, erlauben, Legitimation zu „kaufen“ und die Bevölkerung in direkter Abhängigkeit vom Staat zu halten. Gegen diese Machtausübung mobilisierte sich 2019 in beiden Staaten eine breite zivilgesellschaftliche Protestbewegung: In Algerien stoppte die Hirak-Bewegung die fünfte Präsidentschaft des greisen Bouteflika. Im Irak richtete sich die breite Tishreen-Mobilisierung gegen die ganze politische Klasse und ihre Korruption und überschritt damit die religiös und ethnisch bestimmten Grenzlinien der irakischen Politik. Trotzdem erreichte die „Strasse“ dadurch keine grundlegenden Reformen. In Algerien behaupten sich die Machtstrukturen von Armee und Bürokratie, kooptierten die Opponenten ins System und schwächten die zivilgesellschaftlichen Kräfte. Im Irak setzt sich die Auseinandersetzung zumindest in einem einigermaßen demokratischen aber nach wie vor fragilen System fort. Die Iraker sind heute, auch in der Folge des russischen Angriffskriegs, darum bemüht, die ausländische Einmischung abzuwehren. Das sei aber nur möglich, so Daniel Gerlach, „wenn sie ihre gesellschaftlichen Konflikte überwinden können, dann sind sie auch wieder in der Lage, Souveränität zu erlangen. (..) Viele Iraker fühlen sich so, als wären sie eigentlich noch ein besetztes Land“. Algerien hingegen, so Isabelle Werenfels, knüpfe nach der internationalen Isolation der letzten Jahre an seine Tradition der blockfreien Nähe zur Sowjetunion an, versuche heute, international wieder „ein Player zu sein“ und verfolge seine blockfreie Haltung mit einem Antrag, „den BRIC-Staaten“ (Brasilien, Russland, Indien, China) beizutreten. „Gleichzeitig war dieser Krieg für die Algerier auch ein Erwachen“ bezüglich der Qualität russischer Waffen, die den Hauptteil der algerischen Rüstung ausmache. Sie wollen „ihre Unabhängigkeit stärken, in dem sie in alle Richtungen spielen, aber immer“ mit der Ansage „wir schwimmen gegen den westlichen Strom“. Trotzdem habe sie, „in keinem Land, wo ich gewesen bin, so viele Sympathien für Russland erlebt, wie in Algerien (..) Gleichzeitig wollen alle nach Frankreich“.
3/31/2023 • 51 minutes, 53 seconds
“Was ist das konservative Projekt für ein modernes Deutschland?” – mit Armin Laschet und Ursula Münch
Mit dem CDU-Kanzlerkandidaten von 2021 und früheren NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet und Frau Prof. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing diskutiere ich über das Selbstverständnis der CDU in der Opposition.Auf die Frage, was hätte Armin Laschet als Bundeskanzler besser gemacht, antwortet er: „Ich wäre in vielem, was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, ähnlich zurückhaltend wie Olaf Scholz (..), ich würde (jedoch) das Ganze europäischer anlegen, ich würde mehr und enger mit Frankreich zusammenarbeiten (..), aber die Grundrichtung findet im Moment einen Konsens auch über die reine Regierung hinaus“. Hingegen bezüglich anderer Bereiche, so Ursula Münch, hätte „man sicherlich Unterschiede feststellen können, bei gesellschaftspolitischen Themen“: Gleichstellung, Minderheiten, Abtreibung und Migration, „da wären die Konflikte wesentlich stärker gewesen“, vor allem innerhalb der relativ heterogenen CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Zu einem neuen konservative Grundsatzprogramm der CDU stellt Laschet richtig: Die CDU sei " keine konservative Partei. Konrad Adenauer hat das Wort immer gemieden.(..) und von Christdemokraten gesprochen.“ Dieser weitere Blick werde „vom christlichen Menschenbild abgeleitet. Das Grundsatzprogramm muss das jetzt in die neue Zeit übersetzen (und) aus den Grundwerten heraus konkrete Politik ableiten.“ Dagegen fragt sich Münch, „ ob für eine Partei wie die CDU der grosse Wurf eines Grundsatzprogramms überhaupt erforderlich ist, die CDU ist keine Programmpartei.“ - Dazu Laschet : „Wir leben in einer Zeit, in der auch die andern pragmatische Antworten geben müssen. Das was jetzt gerade passiert, hat mit dem, was im Bundestagsprogramm von SPD und Grünen steht, nichts mehr zu tun, gar nichts. Es wird in diesem Jahr mehr Kohle verbrannt, als je zuvor, mit einer grünen Regierungsbeteiligung“. Steuert die CDU eher nach rechts oder eher in die Mitte? Laschet unterstreicht, „dass Wahlen in der MItte gewonnen werden und die CDU eine Partei der Mitte bleiben muss". - Für Münch stellt sich die Frage auch bezüglich der AfD: „Überlasst man Positionen rechts der Mitte extremistischen Parteien, das ist nicht nur für die Union eine wichtige Frage, sondern für die ganz Bundesrepublik. (..) Interessant wird es nächstes Jahr mit Blick auf die Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Ländern, wo dann auch in CDU-Ländesverbänden sicherlich Positionen geäußert werden, womöglich zu einer künftigen Tolerierung der AfD und da wird die CDU-Spitze gefordert werden“.Hat die CDU ein Frauenproblem? „Ja, das stimmt“, räumt Laschet ein, „die CDU-Fraktion hat zu wenig Frauen (..) Es muss insgesamt das Gefühl geben, ja, auch in dieser Partei haben Frauen ihren Platz und das ist bei uns zu wenig zu spüren und deshalb brauchen wir im Moment noch Quoten“. Das Problem stelle sich, so Münch, „wer ist im Moment in der CDU sichtbar, eine Frau? Da ist tatsächlich wenig vorhanden.(..) Die Frauen (..) wollen eine attraktive Partei, wo sie sich nicht entschuldigen müssen, dass sie für die CDU Sympathien hegen, die aber als ewig gestrige Partei gilt. Und diesen Brückenschlag zu treffen (..), das ist der CDU noch nicht so ganz gelungen.“Zur Gretchenfrage, wie haben Sie es mit dem lieben Gott und dem hohen C im Parteinamen? „Das ist wirklich“, so Laschet „Wesenskern der Union, Markenkern, dass man Politik aus dem christlichen Menschenbild macht.(..) Das heisst, du siehst den Menschen als Person, er ist Individuum und soziales Wesen zugleich. Das ist der Unterschied zu allen andern Parteien. Christliches Menschenbild in der Form der sozialen Marktwirtschaft verbindet das“.- „Was ich aber vermisse“, so Münch, „ist dann ein selbstbewusstes Dazu-Stehen und es dann auch immer wieder begründen. Da würde ich der CDU einen souveräneren Umgang damit raten, um dann sichtbar zu machen, wo ist da der Unterschied (..) zu den anderen Parteien.“
3/22/2023 • 46 minutes, 29 seconds
„Auschwitz liegt auch in der Schweiz“ – mit Jacques Picard und Dina Wyler
„Auschwitz liegt nicht in der Schweiz“ sagte Bundespräsident Delamuraz 1996 zur Abwehr jüdischer Forderungen im Zusammenhang der „nachrichtenlosen Vermögen“ von Opfern der Shoa auf Schweizer Banken. Über die schweizerischen Verwicklungen mit den NS-Verbrechen und das diesbezügliche Verdrängen und Erinnern diskutiere ich mit Prof. Jacques Picard, Präsident der Stiftung jüdische Zeitgeschichte der ETH-Zürich und Dina Wyler, ehem. Leiterin der Stiftung gegen Antisemitismus und Rassismus.In der NS-Zeit wurde vielleicht 15'000 Juden und Jüdinnen die Zuflucht in die Schweiz verweigert. Gemäß Picard war „tatsächlich diese Abweisungspolitik auch antisemitisch eingegeben (..) Zumindest bei einem Teil der Behörden war der Jude der unerwünschte Ausländer, mit dem man gleichzeitig und vorgeblich auch das nationalsozialistische Gedankengut an der Grenze abhalten und wegstellen konnte. Also indem man vermied, Juden aufzunehmen, sagte man, vermeiden wir eben auch, dass eine Judenfrage auch in der Schweiz entsteht, (..) was dann vordergründig ausgegeben werden konnte als eine Ablehnung des nationalsozialistischen Gedankenguts.“ Trotzdem fanden während der NS-Zeit insgesamt vielleicht 30‘000 Juden und Jüdinnen Zuflucht in der Schweiz. „Die schweizerische Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden“ sei aber, so Picard, kaum „von der Schweiz finanziert worden, sondern von den Schweizer Juden mit Hilfe von Spenden amerikanischer Juden", die eigentlich weitgehend die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz über Wasser gehalten hätten.Zum Verdrängen dieser Verwicklung verweist Picard auf Churchill, der kurz nach Kriegsende vom „segensreichen Akt des Vergessens“ sprach. „Das bewusste Vergessen war paradigmatisch dem Zeitgeist geschuldet. Und dass wir uns heute dem Paradigma des Erinnerns und Gedenkens zuwenden, ist eine Entwicklung (..) so ab den 80-er und 90-er Jahren.“ In dieser Entwicklung gebe es, so Dina Wyler jedoch „keine Kontinuitäten, sondern Konjunkturen (..). Man macht zwei Schritte noch vorne und einen zurück.“ Wobei „der Druck für das Erinnern oftmals aus dem Ausland kam, Stichwort ‚Nachrichtenlose Vermögen‘“.Die Frage vergessen oder erinnern macht Dina Wyler daran fest, „von wem sprechen wir? Wenn wir über die Betroffenen reden, da war zuerst einmal Vergessen eine Überlebensstrategie. (..) Was jetzt passiert, ist vor allem, dass die dritte Generation beginnt, Fragen zur stellen, weil sie den nötigen Abstand hat, eben nicht zu vergessen, und damit erinnern kann, was den Grosseltern, Urgrosseltern passiert ist.“ Die eigentliche Verantwortung für das Erinnern liege aber nicht bei den Betroffenen, sondern bei der Gesamtgesellschaft, vor allem heute, wo kaum mehr Zeitzeugen leben.Zum „Doppelbegriff von Holocaust und Shoa“, erklärt Picard: „Der Holocaustbegriff ist (..) eigentlich ein Sakralbegriff, er bedeutet Brandopfer. Damit wird eine quasi religiöse Überhöhung des Opfergedankens mitimpliziert, das ist natürlich hochambivalent, während Shoa (..) ganz einfach die Katastrophe, Vernichtung“ bedeute. Ob in diesem Zusammenhang über den Mord an Menschen, anstatt über den Mord an Juden gesprochen werden soll, widerspricht Picard entschieden, weil „die Universalisierung des Gedenkens an den Mord über das Wort Menschen und Menschentum letztlich auch die Gefahr in sich birgt, dass man die Juden zum Verschwinden bringt im Gedenken.“Bezüglich der Chancen für das Erinnern in der Zukunft sind beide optimistisch, Jacques Picard, „weil die dritte und auch schon die vierte Generation, und zwar nicht nur Opfer-seitig, sondern auch Täter-seitig, in einer Art darüber sprechen, wo man gut annehmen kann, dass Erinnern und Gedenken für sie zur Normalität des Lebens gehören.“ Für Dina Wyler sei es nebst dem Erinnern an die Ermordeten „persönlich immer ganz wichtig zu betonen (..) : Es gibt auch lebendige Juden und Jüdinnen. Wir sind hier, wir sind am Leben, wir tragen diese Erinnerungsarbeit fort“.
2/20/2023 • 45 minutes
“Die verkannte Bedeutung des Dualen Bildungssystems für den wirtschaftlichen Erfolg” – mit Ursula Renold und Rudolf Strahm
Die Schweiz nimmt im internationalen Vergleich stets wirtschaftliche Spitzenplätze ein. Dabei verdankt sie ihre Innovationsfähigkeit, ihr Wirtschaftswachstum und ihre tiefe Arbeitslosigkeit vor allem dem dualen Bildungssystem. Warum verkennen wir dessen Bedeutung? Darüber diskutiere ich mit Ursula Renold, Professorin für Bildungssysteme an der ETH Zürich und ehemalige Staatssekretärin für Berufsbildung und Technologie und Rudolf Strahm, ehemaliger Nationalrat, Preisüberwacher und langjähriger Lehrbeauftragter für die Ausbildung von BerufsberaterInnen.Aus drei Gründen, so Ruedi Strahm sei “die Berufslehre (..) ein Erfolgsmodell: Erstens ist die Berufslehre eine Art Armutsverhinderungsvehikel (..) Die Berufsbildungsländer, nicht nur die Schweiz auch Deutschland, Österreich, Holland und Dänemark haben eine markant tiefere Jugendarbeitslosigkeit.” Zweitens sei sie “ein Vehikel für höhere Arbeitsproduktivität (..) Die Berufsbildungsländer haben bedeutend höhere Löhne”. Und drittens, “ist die Berufslehre mitverantwortlich für die hohe Innovation, weil die Berufsbildung wichtig ist, Innovationen rasch zu verbreiten”. Als Beispiel führt Strahm die Herstellung von medizinischen Implantaten und Prothesen auf, wo die Schweiz weltweit führend sei. Der Erfolg beruhe auf der engen “Zusammenarbeit von Chirurgen und Mechanikern (..) auf Augenhöhe”. Die Mechaniker seien in den Operationssaal und der Chirurg in die Werkstatt gekommen und zusammen hätten sie “mit neuen Formen und neuen Materialien (..) getüftelt”. Ursula Renold bestätigt diese Zusammenhänge. Ihrer Untersuchungen beweisen, dass eine hohe Innovationsleistung auf dem “Zusammenspiel” von Berufspraktikern, den “Tüftlern”, mit theoretischen Hightechkompetenzen beruhe. Die Firma Logitech habe so weltweit die ersten Computermäuse entwickelt.Doch was sind die Hindernisse für die gesellschaftliche Anerkennung der Berufsbildung? Beide Gesprächspartner weisen auf den grossen Einfluss der akademisch orientierten französischen und britischen Bildungsideologie auf die OECD und damit auf die internationalen Vergleiche “des schulisch cognitive Wissens” hin. Bis 2001, so Strahm, habe “die OECD die schweizerische Berufslehre gar nicht anerkannt.” Diese Ideologie sei in den 70er-Jahren vor allem von Daniel Bells Theorie der “Knowledge Society” geprägt worden. Die “praktische Intelligenz”, die “soft skills” gerieten dadurch, so Strahm, ins Hintertreffen: “Exaktheit, Zuverlässigkeit, Termintreue, Verantwortungsbewusstsein etc.”. Diese, so Renold “bekommen eine immer grösser Bedeutung (..), weil wir uns in einer hochgradigen Veränderung befinden, die von der digitalen Tansformation herstammt.” Dafür seien “heute die Schule zu langsam und die Universitäten erst recht.” Der Fachkräftemangel, so Strahm, äußere sich “heute vor allem im Bereich der Leute mit höherer Berufsbildung”.In der Frage, ob fehlende mit dem universitären Bachelor vergleichbare Titel ein Prestigeproblem für die Berufsbildung seien, besteht keine Einigkeit: Während Strahm sich klar “aus der Sicht der Berufsberater” für den “Professional Bachelor” ausspricht, warnt Renold vor einer Titelinflation. Das Prestige der Berufsausbildung sei auch durch den europäischen Qualifikationsrahmen gewährleistet. Auf die Frage, ob sich das Berufsbildungssystem auf andere Gesellschaften mit anderen Traditionen übertragen lasse, antwortet Renold: “Nein, das geht nicht”. Was aber helfe, seien die Resultate der Erforschung der eigenen Erfahrungen. Wichtig sei vor allem der politische Willen der Eliten. In China werde Berufsbildung, so Strahm “einfach diktiert von oben (..): Jede Firma muss ausbilden”.Für die weitere Entwicklung der Berufsbildungsländer sind Renold und Strahm zuversichtlich, in Deutschland jedoch, so Strahm, erhalte “die Berufslehre nach und nach ein soziales Stigma”.
2/9/2023 • 48 minutes, 9 seconds
“Können Gesellschaften aus der Geschichte lernen?” - mit Durs Grünbein und Eva Menasse
Wenn Gesellschaften aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur beschränkt gelernt haben, wie können wir uns einbilden, mit den aktuellen Krisen adäquat umgehen zu können? - Über die Frage der Lernfähigkeit von Gesellschaften diskutiere ich mit der Schriftstellerin Eva Menasse und dem Dichter Durs Grünbein.Durs Grünbein machte in den letzten Jahren hinsichtlich des „zentralen Abgrunds des 20. Jahrhunderts, Auschwitz“, eine neue Erfahrung, nämlich: „einerseits sterben die letzten Zeugen“, andererseits sieht er eine grosse Gefahr (..) in einer Neutralisierung der Geschichte, (..) dass eine Menge anderer Diskurse ins Spiel kommen“ und „die Gegenstände gegeneinander aufgehoben werden“. Für Eva Menasse „verhält es sich mit dem Lernen aus der Geschichte ähnlich wie mit vielen andern menschlichen Fähigkeiten, dass sie nur eine Zeit lang anhalten“. „So werden die Lehren aus der Geschichte von Gesellschaften über ein zwei, vielleicht drei Generationen aufgenommen (..) Und dann kommen wieder andere Sachen hoch.“Auf die generelle Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, sagt Menasse „Deutschland hat etwas gelernt“ und sei „auf eine erstaunliche Weise im Moment noch immun gegen (..) den Zerfall, gegen diese demokratischen Karies und das kann ich mir nicht anders erklären als mit der Impfung, dass drei Generationen durch das tiefe Tal gehen mussten: Was haben wir in der Weltgeschichte angerichtet?“Kann die Realität heute unter dem Einfluss der Sozialen Medien überhaupt noch richtig wahrgenommen werden, um daraus lernen zu können? Für Eva Menasse ist „für das allermeiste, was wir heute an politischer und gesellschaftlicher Verunsicherung und Extremisierung erleben, direkt zurückzuführen auf die Phänomene der digitalen Moderne (..) Das, was seit ungefähr 2008 über die Welt hereingebrochen ist durch die digitale Massenkommunikation, (..)ist bis heute nicht verstanden worden." Dieser Prozess zerstöre Kommunikation und Diskurs. Dabei werden die Menschen durch die Informationsflut "wahnsinnig überfordert".„Information selber wird zu einem Gift“. Die Folgen seien eine Verunsicherung, eine Wut und eine Unruhe, und daraus eine „kollektiven Skepsis, dass man niemandem irgendetwas glauben muss und dass es Wahrheit vielleicht gar nicht mehr gibt“. Ihr Beispiel sind „die grassierende Impfgegnerschaften“ und daraus die Erkenntnis eines Immunologen: „Wenn es in den Sechziger- und Siebzigerjahre schon die sozialen Medien gegeben hätte, dann hätten wir die Pocken nicht ausgerottet“.Dagegen hält Grünbein, dass es die Wahrheit nach wie vor gebe, sie sei uns nicht abhanden gekommen. Wir wissen zwar nicht, welche Auswirkungen die digitale Moderne auf die Demokratie habe, selbst wenn „die Begründer des Internets in einem Manifest“ bekennen mussten: „Es ist alles schiefgegangen, sorry“. Trotzdem bleibe er optimistisch, weil man das, „was die Propaganda der Wahrheit entgegenstellt, immer wieder durchkreuzen kann durch Aufklärung. Ich glaube weiterhin daran.“ Dagegen ist Menasse „viel, viel pessimistischer“, weil „wir an einem Zeitpunkt angelangt sind, wo die Gesellschaft viel geschichtsvergessener und geschichtsblinder ist, als je zuvor“. Dem stimmt Grünbein insofern zu, dass er heute die „Hauptkrise in den Akademien, in den Schulen“ verordnet, die mit der Wahrheitsvermittlung überfordert sind.Trotzdem ist beiden der Optimismus nicht abhanden gekommen, Grünbein: „ich sehe durchaus einen Sinn in der Geschichte, der erschließt sich erst später (..) und dann ist die Bilanz nicht so negativ.p.s. Korrektur: Bundespräsident Delamuraz sagte 1996: "Auschwitz liegt nicht in der Schweiz" - das war nicht 1986.
1/23/2023 • 46 minutes, 14 seconds
Hat die schweizerischer Neutralität Zukunft? - mit Sarah Wyss und Paul Widmer
Können wir angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine neutral bleiben? Darüber diskutiere ich mit der Nationalrätin Sarah Wyss und dem Publizisten und ehemaligen Botschafter Paul Widmer.Für Sarah Wyss ist „die Neutralität ein Teil unserer DNA“. Sie plädiert für eine„aktive Neutralität“. Paul Widmer widerspricht: „Der erste Sinn der Neutralität ist nicht, dass man aktiv ist (..), sondern dass man sich einer Entscheidung enthält“ und dass „der Staat als solcher nicht (..) seine Ansichten zur Kenntnis gibt“. - „Aber wenn man nichts sagt“, entgegnet Wyss, beziehe „man am Schluss auch als Staat eine Position(..) Wenn Völkerrecht mit den Füssen getreten wird und der Staat schweigt (..), dann nimmt er Position“. Die Schweiz könne sich im Sinne der Neutralität an Wirtschaftssanktionen beteiligen, wofür mittlerweile ein breiter politischer Konsens bestehe. Paul Widmer ist dagegen; er wird auch die entsprechende Verfassungsinitiative von „Pro Schweiz“ und der SVP unterstützen. Er plädiert für die traditionelle Position des „Courant normal“, der lediglich Umgehungsgeschäfte verhindere, von der Regierung aber besser erklärt werden müsse.Angesichts der schweizerischen Teilnahme an den EU-Sanktionen fragt sich Widmer: „Ist denn nicht etwas völlig falsch gelaufen, wenn der amerikanische Präsident und der russische Präsident beide zusammen sagen, die Schweiz sei nicht mehr neutral?“ und wenn die Presse in beiden Ländern behauptet, „die Schweiz habe ihre Neutralität aufgegeben. Wir haben versagt da !“ – Dagegen argumentiert Wyss, der Bundesrat habe sich den Sanktionen angeschlossen, „weil er eben nicht Steigbügelhalter sein wollte für Umgehungsgeschichten. Und das hat es gegeben 2014, als Oligarchengelder in die Schweiz hereingekommen sind, in Milliardenhöhe. Wenn wir das weiterhin erlauben würden, wären wir nicht neutral.“Aber ist es so schlimm, wenn uns Moskau nicht mehr als neutral betrachtet? „Natürlich ist es schlimm“, so Paul Widmer, „wenn Russland und auch Indien finden, die Schweiz sei nicht mehr neutral, dann darfst du nicht mehr darauf zählen, dass die Neutralität erfüllt, was sie muss, nämlich dass die andern glauben, du würdest dich neutral verhalten in einem Konflikt“. Die Frage der Glaubwürdigkeit – so Wyss – stelle sich aber nicht nur in Moskau, sondern vor allem in der europäischen Nachbarschaft, und diese erwarte Solidarität. Hier ist mit dem Ukrainekrieg ein neuer Gegensatz zwischen Neutralität und Solidarität aufgebrochen.Wenn sich aber heute - im Gegensatz zur Entstehungsgeschichte der Neutralität – das ausländische Interesse an der Neutralität nicht mehr nachweisen lässt, wie begründen wir dann unser Interesse an der Neutralität? Wir müssen – so Widmer – zeigen, dass sie nützlich sei für uns, wir müssen aber auch zeigen, dass sie „ein sinnvolles Element in der Friedensordnung in der Welt ist, solange es die kollektive Sicherheit nicht gibt“. – Für Sarah Wyss hingegen lässt sich der erwähnte Gegensatz dadurch überwinden, „dass die Neutralität auch mit der Solidarität zu vereinbaren ist, wenn wir sie nicht ganz so eng definieren“. In der Frage der Wiederausfuhr schweizerischer Munition plädiert Wyss aber streng friedenspolitisch für eine enge Definition der Neutralität, während Widmer das Wiederausfuhrverbot von Kriegsmaterial nicht für zweckmäßig hält.Ein neutralitätspolitisches Problem dürfte sich in Zukunft in der Europapolitik daraus ergeben, dass Art. 42 der europäischen Verfassung von EU-Mitgliedstaaten Solidarität im militärischen Konflikt verlangt. Deshalb liesse sich eine EU-Beitrittsdiskussion innenpolitisch nur mit einer sehr flexiblen neutralitätspolitischen Haltung führen oder, was Widmer bestätigt, Art. 42 wird ein wichtiges Argument gegen den Beitritt, ganz abgesehen vom Ziel der gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Wyss hingegen sieht hier keinen Widerspruch, weil Art. 42 dank seinem Absatz 7 die bestehende Sicherheits- und Verteidigungspolitik
12/31/2022 • 49 minutes, 53 seconds
Opfern wir die Menschenrechte wirtschaftlichen und politischen Interessen? - mit Wenzel Michalski, Human Rights Watch, und MdB Derya Türk-Nachbaur
Über die Menschenrechte in Politik und Wirtschaft diskutiere ich mit der Bundestagsabgeordneten Derya Türk-Nachbaur und Wenzel Michalski, dem Deutschlanddirektor von Human Rights Watch.Gefragt, ob er mit seiner Arbeit etwas bewirke, sagt Michalski: “ich denke schon, die Tatsache, dass Menschenrechte in der öffentlichen Debatte in den letzten Monaten so im Vordergrund stehen (ist) bei allen negativen Entwicklungen eine positive Facette, (weil) Menschenrechte doch ernster genommen werden in Wirtschaft, in Politik, in Gesellschaft.” Bei Unternehmern gebe es “in weiten Teilen ein Umdenken, nicht so bei den ganz grossen, BASF, VW oder auch Siemens, die vor allem jetzt noch mal richtig viel Geld in China verdienen wollen und dabei auf die Menschenrechte pfeifen”. Er höre aber auch “positive Signale, wie zB vom Bundesverband der deutschen Industrie”.Die Frage, ob die Fortschritte im öffentlichen und politischen Bewusstsein für die Menschenrechte reversibel seien, verneint Türk-Nachbaur: “Wer einmal MR genossen und geschmeckt hat, gibt sie nicht freiwillig wieder her. Die Wachsamkeit der ganzen globalen Gesellschaft, ist doch so, dass man auf Menschenrechte pocht,” dabei “sind es die Frauen, die sich organisieren und Widerstand leisten.”Sind wir für die Energieversorgung nicht abhängig von menschenrechtlich dubiosen Staaten, wenn Wirtschaftsminister Habeck in den Golf oder BK Scholz nach Saudi-Arabien reist?. “Da muss ich schon sagen”, so Michalski, “dass dort die MR leichtfertig unter den Tisch gekehrt worden ist, (..) Wir sehen ja, was passiert, wenn wir das tun. Wir haben das jahrelang mit Russland gemacht, jahrelang hat man weggeschaut”. Dagegen wendet Türk Nachbaur ein: “Wir sind weltweit vernetzt und Deutschland agiert nicht in einem Vakuum (..) Wir können uns unsere Handelspartner nicht immer aussuchen und manchmal muss man diese Kröte schlucken, (..) um kurze Überbrückungen in der Energieversorgung zu gewährleisten”.Zum Lieferkettengesetz meint Michalski: “ich glaube es hat eingeschränkte Wirkung”, heute “ist es zu schwach, einzelne Firmen können nicht zur Verantwortung gezogen werden von den Opfern” und “die Bundesregierung kämpft jetzt gerade” gegen eine Verschärfung. Nach den Erfahrungen mit Russland stellt sich die Menschenrechts- frage besonders gegenüber China im Falle eines Angriffs auf Taiwan, dazu verlangt Türk-Nachbaur, “dass man jetzt schon die Sachen auf die Schiene bringt, um die Unabhängigkeit zu fördern, (das gehe) aber nicht von jetzt auf gleich”. Und Michalski wendet ein: “Aber wir wollen ja verhindern, dass der GAU passiert, deswegen müssen wir die Menschenrechte von Anfang an noch ernster nehmen.”Was für Michalski aus menschenrechtlicher Sicht vielleicht “effektiver ist (..), ist die internationale Strafgerichtsbarkeit.(..) Wir haben in Deutschland ein wunderbares Mittel, nämlich das Weltrechtsprinzip, das Völkerstrafrecht, das bedeutet, dass ich einen (..) Folterer, einen General oder einen Staatsmann festnehmen kann, wenn er in Deutschland ist, der woanders eine Straftat begangen hat, und vor ein deutsches Gericht gestellt wird”.Die Frage, ob Menschenrechte global mehr als früher akzeptiert werden, bejahen beide Gesprächspartner. Die Behauptung, es handle sich eine westliche Erfindung , sei nur eine Rechtfertigung der Repression autoritärer Regime. Und beide sind für die Zukunft optimistisch - Michalski: “Was wir jetzt sehen, ist eine Reaktion auf die Macht der Menschenrechtsbewegung, (..) in Russland, in Ägypten, in China” geht es um den “Aufstand der alten Männer, die mit dem Rücken zur Wand stehen und danach kommt etwas besseres”. Auch Türk Nachbauer ist sehr optimistisch, “es ist das letzte Aufbäumen einer verzweifelten Elite, die jahrelang Macht missbraucht hat und die Revolution wird sich nicht aufhalten lassen”.
12/20/2022 • 49 minutes, 40 seconds
Führt der Ukrainekrieg zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur? - mit Jana Puglierin und Roderich Kiesewetter
Mit Jana Puglierin, der Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, und Roderich Kiesewetter, Mitglied des Bundestages und früherer Generalstabsoberst der Bundeswehr, diskutiere ich über die europäische Sicherheitspolitik nach dem 24. Februar. Beide Gesprächspartner begründen, warum für sie der russische Überfall keine Überraschung war. Die in Berlin verkündete Zeitenwende habe, so Kiesewetter, für Estland schon 2007 stattgefunden und „was mich dann 2014 politisch so entsetzt hat, war unsere deutsche Antwort auf (..) die Besetzung der Krim: Northstream II (..) Unsere Politik war sehr stark wirtschaftsgetrieben, Wandel durch Handel“. Dagegen sei der 24. Februar „ein heilsamer Schock“ gewesen.Auf die Frage, ob dieser Schock dazu führen kann, Osteuropa aktiver in die Sicherheitspolitik einzubeziehen, antwortet Kiesewetter, es herrsche „in Deutschland (..) eine Art Russlandromantik“, andere Prioritäten hätten verhindert, „die Sicherheitswahrnehmung der Osteuropäer zu verstehen“. In der europäischen Antwort auf den Krieg zeige sich, so Puglierin, dass sich „aus Mittel- und Osteuropa (..) ein neues Gravitationszentrum gebildet hat, (..) aus Polen, aus Tschechien und den baltischen Staaten, auch unterstützt von Finnland, Schweden und Dänemark“, die in einer harten Haltung gegenüber Russland „immer viel mehr wollten“ bei „ganz viel Blockade, Zögern und Abmildern von Deutschland und Frankreich (..) Aber dennoch hat die EU ganz erstaunlich geschlossen reagiert und hat eine Angleichung der Bedrohungswahrnehmung vorgenommen“, vor allem in der Sanktionspolitik und in der gemeinsamen Finanzierung von Waffenlieferungen an die Ukraine.Auf die Frage, ob für eine andäquate Sicherheitsarchitektur die europäische Integration insbesondere durch Mehrheitsentscheide in der EU vertieft werden könnte, sagt Puglierin, dass es „schon immer grosse Resentiments gerade in Mittel- und Osteuropa gegenüber einer Vergemeinschaftung der Sicherheits und Verteidigungspolitik“ gegeben habe. "Ich sehe die EU in Zukunft viel mehr im Bereich Krisenmanagement gefordert, als im Bereich der Verteidigungspolitik“. Für Puglierin kann Europäische Sicherheit „auf absehbare Zeit nicht mit Russland gestaltet werden.“ Aber heute sei noch zu viel im Fluss, deshalb „ist es zu früh, heute schon mit fertigen Lösungen, Modellen zu kommen.(..) Es geht jetzt darum, dass dieser Krieg so endet, dass Russland nicht gestärkt daraus hervorgeht. (..) Es geht jetzt um Krisenmanagement.“ Ist es möglich, die heutige Sicherheitspolitik gegen Moskau einmal in eine Sicherheit mit Moskau zu überführen ? „Es sind ja viele Signale gesetzt worden mit der Reisediplomatie vor dem Krieg“, so Kiesewetter, und danach „mit einer Reihe von Angeboten“, dann aber seien die russischen Kriegsverbrechen gekommen und „die Signale aus Russland, dass Moskau noch keinen Wert auf Verhandlungen legt“.Für die Zukunft hält Puglierin es „für ganz wichtig, dass wir als Europäer die gemeinsame Sicht auf Russland beibehalten“, dabei dürfen wir „nicht wieder den Fehler machen“, das Sicherheitsinteresse von Mittel- und Osteuropa „zu ignorieren. (..) Wir brauchen eine europäisch abgestimmte Russlandpolitik“.
11/30/2022 • 55 minutes, 53 seconds
„Wie erklären sich die Sympathien islamischer Länder für Putins Angriffskrieg?“ – mit Isabelle Werenfels und Reinhard Schulze
Der russische Angriff auf die Ukraine wird nicht von allen, sondern nur vom Westen verurteilt. Für unsere Nachbarregion stellt sich deshalb die Frage: „Wie erklären sich die Sympathien islamischer Länder für Putins Angriffskrieg?“ – Darüber diskutiere ich mit der Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels der Stiftung Wissenschaft und Politik (Berlin) und dem Islamwissenschaftler Reinhard Schulze (Uni Bern).Isabelle Werenfels musste bei ihrem letzen Besuch in der Region feststellen, „dass die Sichtweise auf den Krieg sehr anders gelagert war, als ich mir das vorgestellt hatte, weil russische Narrative selbst von Intellektuellen übernommen werden“. Dies sieht Reinhard Schulze in der palästinensischen Öffentlichkeit darin bestätigt, dass mehrheitlich das alte Bild der „Sowjetunion, die befreit, übertragen wird auf Russland in einer anti-amerikanischen Haltung“. Trotzdem muss die pro-russische Haltung je nach nationalem Kontext differenziert werden: In Algerien, so Werenfels, sei sie „in der Öffentlichkeit und der Regierung fast deckungsgleich“, in andern Staaten jedoch, „wo die Islamisten stärker sind“ seien die Sympathien für Russland geringer „aufgrund dessen, was in Syrien passiert“. Im Nahen Osten vertreten, so Schulze, die Regierungen und die grossen regionalen TV-Kanäle in der Abwehr gegen den Iran antirussische Positionen, während die Bevölkerung „die russische Position gleichsetzt mit der Sowjetunion als antiimperialistischer Befreiungskämpfer (..). Mit einer Wiederbelebung dieser alten anti-westlichen Bilder versuche Putin in der neuen multipolaren Welt, „so etwas zu sein, wie ein Anti-Napoleon, der der Welt eine neue Ordnung bringt“.Das überzeuge ideologisch zwar nicht und Putin finde persönlich als „Mann der Geheimdienste“ keine Beliebtheit in der Bevölkerung . Trotzdem begründen sich die Sympathien gegenüber Russland auch darin, dass sich die Regierungen nicht pro-westlich festlegen wollen, sondern in ihrem zentralen „Interesse der Herrschaftssi-cherung“ kurzfristig und flexibel ihrem „Deal Denken“ folgen und „eine grosse Diversifizierung ihrer Aussenbeziehungen“ anstreben. Zusätzlich schaffe das autoritäre Herrschaftssystem in Saudi Arabien und in einer ganzen Reihe anderer Staaten gemeinsame Interessen mit Russland, das „als Akteur nicht verprellt“ werden soll. Ebenso passe, so Werenfels, „die zunehmende Militarisierung der nahöstlichen Gesellschaften sehr viel besser zu einem russischen als zu einem westlichen Modell“. Ein anhaltender Ukraine-Krieg könnte aber, so Schulze, „zu einer weitgehenden Veränderung der politischen Situation“ führen: „In der islamisch-arabischen Öffentlichkeit wird immer stärker wahrgenommen, was der Kern dieses Konfliktes ist“, der „auch im Nahen Osten existiert, es geht vornehmlich um die Frage der Souveränität: Wem gehört die Nation? (..) Wer ist der Souverän in einem Staat? (..) Die Idee, die die Ukraine repräsentiert, nämlich dass die Bevölkerung selbst der Souverän ihrer eigenen Staatlichkeit ist (..), diese Grundidee wird sich auch in den nahöstlichen Ländern verankern und zeige sich bereits im Irak und aktuell im Iran, zumal die Vergangenheit als Referenzpunkt ihre Bedeutung verliere. Werenfels ist weniger optimistisch, sie sieht eher eine wachsende „Depolitisierung“ und „Verkrustung“ vor allem, wenn der Krieg die wirtschaftliche Krise weiter verschärft.
11/9/2022 • 45 minutes, 39 seconds
„Ist die Ostpolitik der SPD gescheitert?“ – mit Rolf Mützenich und Sabine Adler
Mit dem SPD Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und der Osteuropakorrespondentin Sabine Adler diskutiere ich die Fehler deutscher OstpolitikHistorisch: Schon kurz nach dem 1. Weltkrieg habe, so Sabine Adler, der deutsche Schulterschluss mit Russland das Existenzrecht Polens und anderer osteuropäischer Staaten in Frage gestellt, wo sie ein tiefes, bis heute anhaltendes Misstrauen gegenüber allen deutsch-russischen Absprachen begründete. Für die DDR hatte die deutsch-russische Energiepolitik, so erinnert sich Sabine Adler, ihre besondere Bedeutung darin, dass Zehntausende von DDR-Arbeitern für den Bau der mit Deutschland vereinbarten Pipelines nach Sibirien geschickt wurden und völlig desillusioniert in die DDR zurückkehrten. Die „Freundschaft“ mit Moskau sei für die DDR immer ein „aufgezwungenes Verhältnis“ gewesen. Lernen wir aus politischen Fehlern? Die Energiepolitik hat zu einer enormen Abhängigkeit von Russland geführt, während nach den krassen Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen die klaren Signale gegen den „lupenreinen Demokraten Putin“ (BK Schröder) ausblieben. „Die Korrekturen machen wir ja“, antwortet Mützenich, „der 24. Februar hat die dramatischste Reaktion seit Ende des Zweiten Weltkrieges hervorgerufen. (…) Natürlich sind es Fehler, nehmen wir die Besetzung der Krim“ 2014, aber die Garantiemächte „Russland, die USA und das Vereinigte Königreich, zwei davon auf westlicher Seite, die waren ja auch nicht zu mehr Konsequenzen bereit (..) Wir können nur partnerschaftlich handeln. (..) Wir haben auch in den innenpolitischen Entscheidungen grosse Fehler gemacht haben, wenn wir die (Kontroll-)Möglichkeiten russischer Konzerne auf die Lagerkapazitäten bei Gas“ erlaubt haben. Nach der Annexion der Krim, so Sabine Adler, da habe es „dieses Bemühen, tatsächlich als Europäische Union eine Antwort zu finden“ gegeben „und zwar gemeinsam, (..), aber die dann gemeinsamen verabredeten schnellen Sanktionen waren völlig wirkungslos.(..) Danach hat man nachgelegt, aber das war wieder so häppchenweise.(..) Und dieses Zeichen war verhängnisvoll. Das war für Putin einmal mehr ein Zeichen in die falsche Richtung“. Zuvor war jedoch der 11. September 2001 entscheidend, „da hat Putin etwas Perfides gemacht, er hat als erster bei George W. Bush angerufen und hat gesagt, ich stelle mich an Ihre Seite im Kampf gegen den Terrorismus, nur dass er darunter etwas komplett anderes verstanden hat als der Westen (..): mit aller Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste auf von ihm erklärte Terroristen zu reagieren (..) und davon hat sich die internationale Öffentlichkeit blenden lassen und die deutsche Öffentlichkeit noch viel länger und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Dann kam es zu dieser Einladung (Putins) in den Bundestag 2001“, der „Ovationen feierte (..) Da ist Schröder wirklich in die falsche Richtung gegangen und der ist nicht gebremst worden (..) auch Merkel hat die Korrektur nicht angezogen“. Aber war es aus früherer Sicht nicht einleuchtend, dass die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland mehr Sicherheit und Stabilität schaffen würde? Dagegen differenziert Sabine Adler: Northstream „war für Russland, für russische Beteiligte eine wundersame Möglichkeit, Geld beiseite zu schaffen, deshalb werden solche Großprojekte auch gemacht. Wir haben dann aber gesehen, dass dieses gemeinsame Projekt Northstream nicht zu einer (..) deutsch-russischen Friedenspolitik geführt hätte (..) es hat die Krise in Georgien nicht verhindert.“ Aber Billiges Gas entsprach damals auch gesellschaftlichen Interessen, Northstream II wurde vereinbart, nachdem der Ausstieg aus der Nuklearenergie und der Kohlekraft beschlossen wurden. „LNG-Gas aus den USA und Katar ist ja auch nicht die erste Wahl gewesen“, so Mützenich und dabei gelte es, „das Dilemma“ zwischen Energie- und Menschenrechtsüberlegungen gegenüber den Lieferstaaten „klar zu benennen, das auch heute fortbesteht“.
10/23/2022 • 51 minutes, 45 seconds
„Documenta Kassel, Biennale Venedig, Art Basel – Unterwirft sich die Kunst dem politisch-moralischen Zeitgeist?“ - mit Jacqueline Burckhardt und Raphael Gygax
Diesen Sommer fanden in Kassel, Venedig und Basel gleichzeitig drei international führende Kunstereignisse statt. Beim Besuch fiel mir der fast allgegenwärtige politisch-moralische Zeitgeist auf (Klima, Nord-Süd, Gender, People of Color, LGBTQIA+), daraus die Frage der Debatte.„Also die Kunst unterwirft sich überhaupt nicht“ entgegnet Jacqueline Burckhardt, die Schweizer Kunsthistorikerin. Kurator und Ausstellungsmacher Raphael Gygax pflichtet bei: „Sobald sich die Kunst unterwirft, wird sie zu etwas anderem, zur Illustration“. Ist aber die politisch-moralische Aussage in der Kunst stärker geworden? „Auf alle Fälle“ antwortet Burckhardt, weil es heute um Themen gehe, „die für die KünstlerInnen virulent sind, die sie (..) täglich spüren und auf die reagieren sie (..), es geht um existentielle Anliegen (..) Wir sind heute in einer Situation, die so dramatisch ist, dass es (in der Kunst) sicher darum geht, das zu reflektieren“. „Was aber neu ist“, so Gygax, ist die Globalisierung, „dass man jetzt in der Documenta gesagt hat, wir übergeben das Kuratorium an ein Künstlerkollektiv aus Indonesien“. Zur Globalisierung meint Burckardt "früher war die Welt noch flach, also Amerika-Europa war, 1989 hat sich dann der ganze Globus erweitert.“ Der Kunstmarkt sei sehr heterogen geworden, sagt Gygax, es sei „sehr komplex geworden durch die Gleichzeitigkeit von ganz vielen Dingen, ein bisschen ein Chaosmoment“. So habe er auch die Documenta erlebt. Gegen die Kritik an der Unübersichtlichkeit der Documenta wendet Burckhardt ein: „Man kann gar nicht abschätzen, wie wichtig es für die (Künstlerinnen) ist, die teilgenommen haben, wenn man weiss, unter welchen Umständen sie arbeiten müssen und wie gefährlich es ist in ihrem politischen Umfeld, Künstler zu sein. Dann ist es natürlich toll, dass sie sich hier äussern können. (..) Was der Besucher hier erlebt, ist mir nicht so wichtig, für mich ist wichtig, was die Künstler davon haben.“Zum Geld, ist es der Markt, der bestimmt, was erfolgreich ist, der Markt, der die Qualität eines Kunstwerks bestimmt? Gygax würde „bei einem Kunstwerk immer unterscheiden zwischen dem Symbolwert und dem Marktwert. Idealerweise würde man sagen, das ist genau gleich“. Der Symbolwert bestimme sich auch dadurch, ob man über das Kunstwerk spricht, ob es „diskursrelevant“ sei und das beeinflusse dann auch den Marktwert. Wegen der Unübersichtlichkeit entwickle sich der Kunstmarkt aber zunehmend zu Bubbles, die den Diskurs erschweren. Dazu tragen auch die Social Media bei, die mit der Wahl zwischen Zustimmung oder Ablehnung nur noch polarisieren. Auch darin habe in den letzten 3-4 Jahren eine Brandbeschleunigung im Kunstgeschehen stattgefunden.Leidet die Qualität der Kunst darunter? „Wir sind in einem Moment, wo sich die Dinge krass ändern“ sagt Burckhardt. Sie sieht darin aber keinen Qualitätsverlust und verweist auf die Energie eines Kunstwerkes, die sowohl „für einen speziellen Moment sehr wichtig“ sein könne oder in ihrer Nachhaltigkeit über die Zeit hinweg die Qualität bestimme. So sieht auch Gygax die Qualität von Kunst in ihrer Diskursrelevanz, die momentan oder auch bleibend sein kann. Das könne aber auch gut „Hand in Hand mit dem Markt“ erfolgen, „ich habe nichts gegen den Markt“.Zeigt sich heute eine Verstärkung des politisch-moralischen Imperativs in der Kunst? Gygax „ich würde da widersprechen, es war schon immer so“. Und zu Kassel meint Burckhardt, es gehe dort nicht um die politische Absicht der Künstlerinnen, sondern um ihre eigene Betroffenheit. Die Biennale hingegen sei „ganz anders kuratiert worden“, als „klassische Ausstellung“ im Gegensatz zur Documenta, „die als Plattform Experimente zulässt“, so Gygax, „in Kassel wurden leider durch den Antisemitismus-Skandal „die andern 980 KünstlerInnen tot geschwiegen, (..), über die es sehr viel zu berichten“ gegeben hätte.
10/11/2022 • 46 minutes, 57 seconds
Ukrainekrieg: Wie sich die Gesellschaften der früheren „Brudervölker“ entfremdet haben - mit Ina Ruck und Alexander Hug
Mit Ina Ruck, der Leiterin des ARD-Büros in Moskau und Alexander Hug, dem langjährigen Leiter der OSZE-Mission in der Ukraine diskutiere ich als Hintergrund des Krieges das Auseinanderdriften der russischen und ukrainischen Gesellschaft in den letzten Jahren und dabei den wichtigsten Unterschied in der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft.„Vergleicht uns doch nicht immer mit Russland, wir wollen mit Polen verglichen werden, wir gehören nach Westen“ so Ukrainische Gesprächspartner gegenüber Ina Ruck, die bekräftigt, dass die ukrainische Gesellschaft gar nicht so gespalten sei zwischen dem vermeintlich Russland-freundlichen Osten und dem Rest des Landes. Das hatte sie schon 2012 anlässlich der Fussball-Weltmeisterschaft im ostukrainischen Charkiw erlebt, wo die Massen mit blau-gelben Fahnen ihren Nationalismus zum Ausdruck brachten. Alexander Hug bestätigt das mit seiner Beobachtung, dass er im Osten auch nach fünf Jahren der von Separatisten kontrollierten Verwaltung keine „sichtbare und spürbare Spaltung“ der Gesellschaft feststellen konnte. Die Menschen im Land, unabhängig von ihrer Muttersprache, ob Russisch oder Ukrainisch fühlen sich als Ukrainer, heute mehr denn je.Den wichtigsten Unterschied in der gesellschaftlichen Entwicklung beider Staaten machen die zwei Gesprächspartner darin fest, dass sich vor allem seit 2014 eine ukrainische Zivilgesellschaft herausgebildet hat, was sich darin zeigte, dass „sehr schnell im Herbst (2021) die Organisation der Selbstverteidigung begann. Man konnte sich einschreiben in eine Art Bürgerwehr-Selbstverteidigung. (..) Ich war dann sehr überrascht über die Sicherheit und Bestimmtheit, mit der die Leute es gemacht haben“, so Ina Ruck. Die Bedeutung der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstreich auch Hug: „Ich habe klar gesehen, dass obwohl die Vereidigungskapazität der Regierung anfangs sehr schwach war 2014, die Zivilgesellschaft schon damals sehr stark war. Die hat sich sofort organisiert“, das habe sich, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen gezeigt, unter anderem in der Pandemie, und „zwar so, dass Teile der Zivilgesellschaft eigentliche Staatsaufgaben übernommen haben“. Stärkt oder schwächt der Krieg die rechtsstaatliche-demokratische Entwicklung des Landes? „Das grosse Risiko gerade und die grosse Unsicherheit“ sei, so Ina Ruck „wie es nach dem Krieg weitergeht. (..) Es wird sicher ein völlig neues Land sein (..) und die Macht wird neu verteilt werden“. Die Oligarchen seien die grossen Verlierer im Moment. Alexander Hug ist heute noch optimistisch: „Im jetzigen Zeitpunkt wäre die Zivilgesellschaft stark genug, um eine Machtkonzentration abzufedern (und) mehr Mitsprache einzufordern in einer neuen Ukraine nach dem Krieg“.In den 90er Jahren gab es in beiden Gesellschaften einen demokratischen Hoffnungsmoment, „aber die Russen haben es vergeigt, die Gesellschaft war nicht stark genug um sich gegen die immer autoritäreren Gesellschaftstendenzen zu wehren.(..) Man denkt jedes Jahr, schlimmer wird es nicht, aber es wird immer schlimmer“, sagt Ina Ruck. Heute sei die Mehrheit der Leute für den Krieg, es gebe das Gefühl: „Wir sind die Herrscher eines grossen Reichs und wir wollen dieses Reich zurück“. Gibt es Hoffnungen auf einen Waffenstillstand? - Ina Ruck: „Ich sehe auf beiden Seiten das Interesse nicht“, Selenski und Putin stehen unter Druck, „Putin kann sich einen Waffenstillstand gar nicht leisten, der Druck von rechts ist gerade sehr gross“.Damit ist Pessimismus angesagt. (Diese Debatte wurde kurz vor der russischen Teilmobilmachung aufgenommen, die deshalb nicht berücksichtigt ist).
9/29/2022 • 47 minutes, 50 seconds
„Afghanistan: Das Desaster der westlichen Intervention – Was tun?“ - mit Katrin Eigendorf und Thomas Ruttig
Das Debakel des überstürzten Abzugs der Ausländer aus Kabul, die schrecklichen Bilder vom Chaos am Flughafen vor einem Jahr waren nur der jämmerliche Schlusspunkt eines zwanzigjährigen Versagens westlicher Interventionspolitik. Darüber diskutiere ich mit der deutschen Fernsehjournalistin Katrin Eigendorf und dem Afghanistanspezialisten Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Die Bilder der öffentlichen Erschießung einer Afghanin im Sportstadium von Kabul prägten das Afghanistanverständnis von Katrin Eigendorf, die sich besonders mit dem Schicksal der Frauen im Land befasst hat. Die letzten zwei Jahrzehnte westlicher Politik hält sie für ein „komplettes Desaster“, dem im besten Fall wenige „Kollateralerfolge“ zuerkannt werden könnten: Frauen seien heute selbstbewusster und versuchen ihre verbesserte Bildung in „Untergrundschulen“ an Mädchen weiterzugeben, denen der Schulbesuch verboten werde. Seitens der Interventionsstaaten habe es „überhaupt keine Strategie“ gegeben, man habe lediglich „Geld hineingeschüttet“, um sich Sicherheit bei den Warlords zu kaufen, die schon vorher „das Land ins Chaos gestürzt hatten.“ Dem Argument der fehlenden Strategie widerspricht Ruttig, es habe sehr wohl eine Strategie der Demilitarisierung des Landes gegeben, die an der Bonner Konferenz Ende 2001 verabschiedet worden sei, dann aber nicht befolgt wurde. Die Warlords hätten damals vor dem "Vitamin B 52“ der strategischen US-Bomber gezittert, bis sie merkten, dass die Ankündigung ziviler und demokratischer Reformen gar nicht ernst gemeint war. Was kann der Westen heute angesichts der sich verschärfenden humanitären Katastrophe im Land tun? Mit den Taliban zusammenarbeiten? Ruttig äußert sich vorsichtig positiv über die aktuelle humanitäre Politik auf tiefem Niveau, wofür Kontakte mit den Taliban nicht zu vermeiden seien, ohne aber deren Regierung anzuerkennen. Eigendorf plädiert für mehr Selbstbewusstsein gegenüber dem Regime. Auch wenn keine Verbesserung der Frauenrechte zu erwarten seien, sollte zB die Nahrungsmittelabgabe an den Schulbesuch gebunden werden. Die Taliban wissen, dass sie ohne westliche Hilfe das Überleben der Bevölkerung nicht garantieren können und seien deshalb auch offen gegenüber westlichen Journalisten. China und Russland haben für den Wiederaufbau nichts zu bieten. Das Land einfach seinem Schicksal zu überlassen, sei - schon gar angesichts der westlichen Verantwortung für die heutige Katastrophe - keine Option.
9/7/2022 • 49 minutes, 10 seconds
„Hass im Netz - Was können wir tun?“ - mit Renate Künast und Hasnain Kazim.
Über die Frage, was man gegen Hass und Aggression in sozialen Netzwerken tun kann, diskutiere ich mit Renate Künast, Mitglied des deutschen Bundestages und frühere Bundesministerin, und dem deutschen Publizisten Hasnain Kazim.Hasnain Kazim schrieb zum Thema ein Buch ("Post von Karlheinz" und erhielt schon als 16-jähriger die ersten Hassbriefe. Seit dem Ratschlag seiner Lehrerin „Lass dich nicht einschüchtern“, sagt er sich: „ich lasse die nicht gewinnen, ich halte nicht meinen Mund“. Für Renate Künast gilt seit ihrer Erfahrung als Sozialarbeiterin im Berliner Männerknast das Judoprinzip, die aggressive Energie auszunützen, um sie zurückzugeben. Soll man die Täter mit Respekt behandeln? Gegen Trump und seine Anhänger hatte Michelle Obama gesagt: „When they go low, we go high“. Künast erzählt, wie sie im Bundestag mit ihrem Zwischenruf SPD-Kollegen zurechtgewiesen hat, die vom „Mob“ und „Pack“ der Rechtspopulisten sprachen: „So etwas sagt man nicht !“, denn diese sind danach mit der Losung: „Wir sind das Pack“ auf die Strasse gegangen. Kazim geht weiter in seinen manchmal auch zynischen Reaktionen, in dem er - was er als Marineoffizier gelernt habe - eine „Zielgruppen-gerechte Ansprache“ wähle, sonst finde ja gar keine Diskussion mit diesen Mitbürgern mehr statt. Warum haben die Agressionen im Netz zugenommen? Sind es die technischen Möglichkeiten im Netz oder liegt es an einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft? Künast hält nichts von der Spaltungstheorie. „Als ich jung war, das war eine gespaltene Gesellschaft“, weil die Frauen viel weniger Rechte hatten. Es liesse sich nachweisen, dass alle diese Einstellungen - Rassismus, Homophobie, Islamophobie Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus - früher in der Gesellschaft genauso, wenn nicht noch stärker vorhanden waren. Aber heute haben solche Einstellungen mit den sozialen Medien und der AfD einen Lautsprecher. Dem stimmt auch Kazim zu, „was aber schlechter geworden ist, ist, dass wir heute weltweit Leute an der Spitze von Regierungen haben, Staatschefs, die so reden, Trump, Bolsonaro, Erdogan, le Pen oder Modi“ die zur Reaktion führen: „Wenn die das dürfen, dann darf ich das auch. Es ist in Ordnung so hassvoll zu reden.“Haben Gerichtsklagen eine Chance? Kazim hat das oft versucht, „meistens hat es nichts gebracht. Und wo überhaupt ermittelt wurde, wurden die Verfahren in den meisten Fällen eingestellt.“ Künast hat „massenhaft Verfahren“ angestrengt, „jede Menge die ins Nichts führten“. Doch als das Landgericht Berlin im September 2019, die Beschimpfung der Politikerin als „Drecksfotze“ nicht verurteilen wollte, weil dieser Angriff in einem Sachzusammenhang mit dem politischen Kontext gestanden hätte, zog sie den Fall an das Bundesverfassungsgericht weiter und gewann. Dieses Urteil - „eine Sensation“ so die Organisation „Hateaid“ - stellte vor allem zwei Dinge klar: Erstens die besondere Wirkung des Digitalen, weil etwas in der Masse komme und reproduzierbar sei, und zweitens den Vorrang des öffentlichen Interesses, dass die Persönlichkeitsrechte von Menschen, die sich in öffentlichen Ämtern engagieren, besonders geschützt werden müssen. Das wird die Referenz für künftige Gerichtsentscheide. Künast erwartet deshalb, dass das Landgericht Berlin von Facebook die Herausgabe der Nutzerdaten verfügen wird, was dann eine Zivilklage ermöglicht.Das Netz ist kein rechtsfreier Raum, es ist aber angesichts der rasanten Entwicklung der Technik viel zu oft ein rechtsdurchsetzungsfreier Raum. Fortschritte sind nicht möglich, wenn die Rechtsmittel auch international mit der Entwicklung nicht mithalten. „Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden“, so Renate Künast.
7/24/2022 • 53 minutes, 34 seconds
Ist die Schweiz noch konkordanzfähig? - mit Regula Rytz und Eric Gujer
In der direkten Demokratie der Schweiz ist die Politik zur Konkordanz verdammt. Doch heute blockiert die fehlende Kompromissbereitschaft der politischen Eliten notwendige Reformen in zentralen Fragen, ob im Verhältnis zur EU, für die Altersvorsorge oder in der Klimapolitik. Darüber diskutiere ich mit Regula Rytz, der ehemaligen Nationalrätin und Präsidentin der Grünen, und mit NZZ-Chefredakteur Eric Gujer. Erhöht der Druck ungelöster Probleme die Reformbereitschaft der Politik? - Eric Gujer ist pragmatisch: "Es wird sich gar nichts ändern im politischen System" sagt er zur blockierten Europafrage, bevor das Volk die Probleme schmerzhaft im Portmonee spüre, und das sei nicht absehbar, "die Politik wird weiterwursteln". Dagegen argumentiert Regula Rytz, dass sowohl der Abbruch der Europaverhandlungen als auch der Ukrainekrieg die Gesellschaft schockiert hätten mit politischen Folgen, denen sich die Politik nicht mehr entziehen könne. Wenn aber eine Krise wie Covid 19 sofortiges Handeln verlange, sei die Politik fähig, sich zusammenzuraufen und zu entscheiden. Beide finden, hier habe das System sehr gut funktioniert, ohne in einen "Seuchensozialismus" (Gujer) abzugleiten. Überhaupt sieht Eric Gujer das politische System der Schweiz "schon relativ nahe am möglichen Optimum", schon gar im internationalen Vergleich und warnt davor, ständig einem "cry wolf" zu verfallen. Dagegen argumentiert Regula Rytz, der Wolf sei schon da und für die grossen Krisen wie das Klimaproblem komme die Politik zu spät, wenn wir nicht sofort radikal umdenken.
7/6/2022 • 51 minutes, 22 seconds
„Hält sich die Werbung an Moral und Ethik?“ - mit Annette Häcki und David Schärer
Über Moral und Ethik in der Werbung diskutiere ich mit David Schärer, Partner der Agentur Rod Kommunikation und "Werber des Jahres 2022", sowie mit Annette Häcki, Executive Creative Director bei der Agentur Jung von Matt und Initiantin des „Gislerprotokolls für die facettenreiche Repräsentation der Geschlechter in der Werbung“.„Sagt meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung bin, sie glaubt, ich sei Pianist in einem Bordell“ (Jacques Séguéla). „Werber haben ein tiefes Image im Berufsranking“, sagt David Schärer, „als „Strippenzieher und Manipulatoren“. Dabei sei Moral in der Werbung „ein permanentes Thema“ (Annette Häcki), „wir stehen unter Beobachtung“ und die Kunden fragen: „Was dürfen wir und was sollen wir tun?“. Die Gesellschaft verändert sich, sie ist moralischer geworden und das prägt damit auch die Werbung. Schärer erfuhr in seiner „Safer sex“-Kampagne den moralischen Widerstand aber nicht von der Oeffentlichkeit, sondern in den für die Werbung wichtigen sozialen Medien, die wegen der Vormacht US-amerikanischer Firmen „keine nackte Haut“ zeigen und nicht offen über Sex sprechen dürfen. Generell lässt sich behaupten, dass die Werbung „der Gesellschaft hinten herhinkt“, so Annette Häcki, weil sie immer noch Stereotypen aus den 50-er Jahren bedient. Es wäre nur schon gut, wenn sie die Welt so darstellen würde, wie sie ist. Häcki fragte sich zusammen mit ihrer Kollegin Nina Bieli: „Was würde ein Alien über unsere Welt denken, wenn er nur unsere Werbung sähe?“ Drei Folgerungen: 90% der Menschen sind Männer, die Frauen können nicht sprechen und erfüllen die gleiche Funktion wie Topfpflanzen, sie stehen nur dekorativ herum. Deshalb lancierten die beiden das "Gislerprotokoll" mit dem Ziel, die Geschlechterrollen „facettenreich“ darzustellen. „Wo ein Lenkrad in der Werbung gezeigt wird, ob Auto, Flugzeug oder Boot, gelenkt wird immer vom Mann“, Frauen müssen hüpsch sein, ihnen wird Wert nur zugeschrieben, „wenn sie sich kümmern“. Das Gislerprotokoll – genannt nach Doris Gisler, die vor einem halben Jahrhundert die Kampagne zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz geleitet hatte – legt fünf Prinzipien fest, um in der Werbung die Gleichwertigkeit verschiedener Lebensentwürfe zu fördern. – Die weiter gehende Frage, ob die Werbung die Gesellschaft moralisch beeinflussen soll, beantworten zwar beide mit Ja, ohne aber die andern in der Gesellschaft, insbesondere die grossen Unternehmen aus ihrer Verantwortung entlassen zu wollen.
6/20/2022 • 45 minutes, 47 seconds
Kann die EU in ihrer Geschlossenheit gegen Putins Krieg die Integration vertiefen und in Polen und Ungarn den Rechtsstaat durchsetzen? - mit Katarina Barley und Fryderyk Zoll
Der Ukrainekrieg bringt neue Bewegung in die Frage des Rechtsstaats im Verhältnis von Brüssel zu Polen und Ungarn. Ebenso bietet er neue Chancen für die Vertiefung der Integration. Darüber diskutiere ich mit der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und früheren Bundesjustizministerin Katarina Barley und dem polnischen Professor Fryderyk Zoll, der in Krakau und Osnabrück europäisches Recht lehrt. Mit dem Vorwurf der westlichen Bevormundung und dem Hinweis auf die kommunistische Erbschaft stellen die Regierungen in Warschau und Budapest den Vorrang des EU-Rechtes und des europäischen Gerichtshofs in Frage. Dagegen argumentiert Frydryk Zoll: „Diese Argumentation ist falsch.(..) Es gibt keine anderen Instrumente, die in Polen anzuwenden sind (..), kein anderes Rechtsstaatsverständnis“, zumal viele Polen für den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz auf die Strassen gegangen seien. Barley findet den Rückgriff auf den Kommunismus zur Rechtfertigung der offiziellen Positionen „schon fast drollig“, weil sich die PIS und die Fidesz „genauso verhalten wie die kommunistischen Parteien früher“; zur Durchsetzung der Prinzipien des Rechtsstaates habe Brüssel vor allem das Mittel der Vertragsverletzungsverfahrens in der Hand, „aber der ganze Umgang mit Rechtsstaatlichkeit von Seiten dieser Kommission ist ausgesprochen halbherzig.“ Viel gravierender als in Polen sei die Situation in Ungarn. „Auf legalem Wege ist es überhaupt nicht mehr möglich, Viktor Urban von der Macht zu verdrängen“, argumentiert Barley, „die Korruption in Ungarn ist himmelschreiend, himmelschreiend (..) Viktor Orban ist fest im Sattel und das einzige, was ihn schmerzt, ist, wenn weniger Geld in seine Taschen fliesst“. Hier kann die Kommission den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus einsetzen, mit dem man am Ende dem Land EU-Gelder vorenthalten kann. Aber was die Kommission tatsächlich tut, sei „ein Werfen mit Wattebäuschchen“. - Frydryk Zoll ist für Polen etwas optimistischer, weil sein Land angesichts des Krieges und seiner grossen Solidarität mit der Ukraine dringend auf finanzielle Hilfe aus Brüssel angewiesen sei.Ist der Krieg eine Chance für die Vertiefung der Europäischen Integration?„Ja“, antwortet Barley, mit dem Zitat von Jean Monnet: „Europa wird aus Krisen gebaut“, „wir sehen bei jeder Krise der Europäischen Union, dass sie zur Vertiefung führt, in der Finanzkrise mit der Bankenunion (..), wir haben das bei Corona gesehen, wo wir auf einmal eine Gesundheitsunion bekommen haben, und wir sehen es jetzt, in Bereichen der Verteidigung (..). Dass innerhalb von drei Tagen die EU entscheidet, selbständig Waffen zu kaufen, wer hätte das gedacht“. Bei aller Unsicherheit der aktuellen Lage und trotz der „Pseudo-Anwendung der polnischen Verfassung“, die „die rechtliche Kontinuität des Staates unterbrochen“ hat, „ändert der Krieg etwas in der Zusammensetzung der polnischen Gesellschaft“, Zoll argumentiert weiter, dass die Kluft, „dass man nicht mehr mit einander sprechen konnte“, überwunden wurde, und „dass Brücken entstehen und man auf dieser Grundlage über andere Themen sprechen kann“. Heute sei „klar geworden ist, dass Polen ohne Europa eine gleiche Grauzone wie die Ukraine“ gegenüber der russischen Bedrohung würde. - Erfreulich ist auch Slowenien, wo im April „der kleine Bruder von Viktor Orban, Janez Jansa“ fulminant mit einem riesigen Ergebnis aus dem Amt gewählt worden ist. „Es macht mich wirklich froh, dass ein Volk das erkennt und danach handelt“ (Katarina Barley).
6/1/2022 • 48 minutes, 30 seconds
„Deutschschweiz-Baden-Elsass-Liechtenstein-Vorarlberg: Können alemannische Gemeinsamkeiten Landesgrenzen überwinden?“ mit Rita Schwarzelühr-Sutter und Thomas Pfisterer
Schaffen die Gemeinsamkeiten in dieser Region ein alemannisches Wir-Gefühl? Darüber diskutiere ich in meinem neusten Podcast mit Rita Schwarzelühr-Sutter, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern und für Heimat, und Thomas Pfisterer, ehemaliger Ständerat und Landammann des Kantons Aargau.Die gemeinsame alemannische Sprache in der gesamten Region zwischen dem Vorarlberg und Elsass schafft zwar gute Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Aber daraus ergibt sich - hier sind sich die drei Gesprächspartner einig - noch keine alemannische Identität, kein alemannisches „Wir-Gefühl“. Die Rheingrenze, so Pfisterer, ist zwar eine künstliche Grenze und historisch sehr jung (1801), „das Leben ging schon immer darüber hinweg“, trotzdem waren auf der schweizerischen Seite der Grenze die Folgen des 2. Weltkrieges noch lange spürbar. 1992 haben in der Grenzregion zwei Drittel gegen den Beitritt der Schweiz zum europäischen Wirtschaftsraum gestimmt. Von deutscher Seite, so Schwarzelühr-Sutter, ist das Verhältnis zum „verfreundeten Nachbarland“, so der Titel einer deutschen Ausstellung, auch nicht unbelastet, zumindest gibt es im persönlichen Austausch oft ein „Unbehagen“ durch die Ausdrucksweise der anderen Seite. Krass spürbar wurde diese Grenze in der Coronapandemie, als sie durch Absperrungen dicht gemacht wurde. Eine Reihe von Institutionen und Verträge schaffen den Rahmen, um die Probleme grenzüberschreitend anzugehen: die Hochrheinkommission oder das Karlsruher Abkommen von 1996 für die regionale und kommunale Zusammenarbeit. Am Abkommen beteiligen fünf Grenzkantone. Hier erinnert Pfisterer daran, dass die Schweizer Seite nur deshalb für den Dialog offen war, weil die Partner in Baden-Württemberg vom Volk gewählte Persönlichkeiten waren und nicht Beamte. „Die strukturellen Voraussetzungen sind gegeben, aber das Wir-Gefühl stellt sich nicht von allein ein“ (Schwarzelühr-Sutter). „Wenn wir Alemannen in dieser Raumschaft zusammenhalten, könnte das ein neuer Start nach Corona sein“. Aber das grösste Problem heute nach dem Ende des Rahmenabkommens bleibt die EU-Aussengrenze am Rhein. Pfisterer spricht von „verpassten Chancen“, zumal die Grenzkantone bisher nicht imstande waren, gemeinsam ihre Interessen in die Debatte über die bilateralen Beziehungen zur EU einzubringen.
5/22/2022 • 42 minutes, 23 seconds
„Wie prägt die familiengeschichtliche Erinnerung nationale Politik?“ mit Aleida Assmann und Thomas Maissen
Über die Bedeutung der Familiengeschichte für das kollektive Bewusstsein und damit für die nationale Identität diskutiere ich mit der deutschen Literatur- und Kulturwissenschafterin Aleida Assmann und dem Schweizer Historiker Thomas Maissen. Ich behaupte, dass die nationale Identität von familiengeschichtlichen Erfahrungen stark beeinflusst ist. Die friedliche Kontinuität in den Familiengeschichten der Schweiz der letzten 100 Jahre unterscheidet sich stark von den Brüchen, die in Deutschland durch den Krieg, die Shoa, die Vertreibung aus dem Osten und das Ende der DDR im kollektiven Bewusstsein tiefe Spuren hinterlassen haben und als oft unverarbeitete Traumata über Generationen vererbt werden. Dagegen relativiert Thomas Maissen den direkten Einfluss von Familiengeschichten auf die nationale Identität und damit auf die Politik durch die Unterscheidung zwischen subjektiven Erinnerungen und geschichtlichem Bewusstsein. Das letzte ist – wenn auch ausgelöst durch individuelle Herkunftsinteressen - stärker von auf Quellen und Archive gestützten wissenschaftlichen Debatten geprägt. Aleida Assmann erklärt, wie erst durch das Ende des Kalten Kriege die Erinnerungen, ausgelöst durch Familiengeschichten, in das gesellschaftliche Bewusstsein zurückgekehrt sind und in verschiedenen Ländern die nationalen Narrative korrigiert haben. Eine neue Entwicklung zeigt sich der Schweiz, wo die Familiengeschichten eines Drittels der Bevölkerung mit Migrationshintergrund langsam in das kollektive Bewusstsein eindringen. „Der Jugoslawienkrieg der 90-er Jahre ist damit zu einem schweizerischen Erinnerungsort geworden, der die Selbsterzählung unseres Landes verändert“ (Maissen).
5/8/2022 • 47 minutes, 9 seconds
„Putin und die Rückkehr der Einflusssphären in der Geopolitik“ - mit Herfried Münkler und Daniela Schwarzer
Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine versucht Putin, mit Gewalt die Einflusssphäre Moskaus zu sichern und zu erweitern. Mit zwei prominenten Persönlichkeiten der deutschen Politikwissenschaft, mit Prof. Herfried Münkler und Prof. Daniela Schwarzer, der Exekutiv-Direktorin der Open Society Foundations in Berlin diskutiere ich die Folgen des Krieges für Europa und die Welt.Putins Angriffskrieg hat zu einer radikalen Zäsur in der europäischen Politik geführt und erzwingt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel. Bisher glaubte man an „Wandel durch Handel“, dh. daran, dass eine hohe wirtschaftliche Verflechtung mit Russland und die gegenseitige Abhängigkeit Sicherheit und Stabilität gewährleisten. Heute hindert uns diese Verflechtung daran, Wirtschaftssanktionen so konsequent einzusetzen, wie es politisch wünschbar wäre. Beide Gesprächspartner unterstreichen, dass Putins Angriff einer ganz andern als unserer Logik folgt. Wir argumentieren mit Vor- und Nachteilen und nachvollziehbaren Interessen. Putin hingegen leidet unter irrationalen „imperialen Phantomschmerzen“ (Münkler) und will in seiner auf nationale Grösse angelegten Russlandvision die russische Einflusssphäre in den Grenzen der untergegangenen Sowjetunion und darüber hinaus wiederherstellen. Diese Vision hatte sich in Worten und Taten schon länger angekündigt, nur dass wir sie nicht ernst nehmen wollten (Schwarzer). Wie wir in einem neuen Paradigma aus der aktuellen Konfrontation heraus zu einer kontinentalen Stabilität zurückfinden, bliebt auf Jahre hinaus eine Aufgabe, die in allen Konsequenzen noch lange nicht absehbar ist. Anstatt dabei auf die bisher einigermaßen anerkannten Prinzipien des Völkerrechts und auf nationale Souveränität zu zählen, ist es realistischer, mit einer Entwicklung zu einer - unter Einschluss von Indien - globalen fünf-Mächte-Ordnung (Münkler) zu rechnen, in der China sein Verhältnis zu Russland allein aufgrund seiner Weltmacht-Interessen (Schwarzer) definiert.
4/11/2022 • 52 minutes, 50 seconds
Kann Macron nach seinem Wahlsieg das Tandem Paris-Berlin zum Motor der europäischen Erneuerung machen?“ mit Michaela Wiegel und Joseph de Weck
Über den absehbaren Wahlsieger Emmanuel Macron und die europäische Erneuerung diskutiere ich in Paris mit der langjährigen FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel und dem schweizerischen Publizisten Joseph de Weck, die beide ein Buch über Emmanuel Macron geschrieben haben. Die Klimafrage, die Pandemie und jetzt zusätzlich der Ukrainekrieg verlangen gesamteuropäische Antworten. Dafür muss die EU neue gemeinschaftliche Lösungen entwickeln. Bisher haben Krisen die europäische Integration immer vorangebracht. Der zu erwartende Wahlsieg des germanophilen Europäers Macron bietet die Chance, dass in enger Zusammenarbeit mit Olaf Scholz die Grundlage für eine europäische Erneuerung gelegt werden kann. - Meine beiden Gesprächspartner stellen dabei eine markante Verschiebung der europäischen Politik von marktliberalen, bisher vor allem von Deutschland verfochtenen Prinzipien zu französischen etatistischen, auch zentralistischen Positionen fest. Diese Entwicklung zeigt sich unter anderem im europäischen Aufbauplan (750 Mrd. EU-Coronahilfe), in der Abwehr chinesischer Investitionsstrategien oder in Schritten für eine europäische Verteidigung. So dürfte der Wahlsieg Macrons dazu beitragen, Europa stärker und global autonomer machen. - Nur die Schweiz bleibt mit ihren europäischen Anliegen für Macron irrelevant, kleine EU-Mitgliedstaten sind für ihn viel wichtiger.
3/21/2022 • 47 minutes, 30 seconds
Sind Gerichtsklagen ein zweckmässiges Kampfmittel gegen den Klimawandel? - mit Prof. Helen Keller & Prof. Peter Hettich
Gerichtsklagen für den Klimaschutz ? Darüber diskutiere ich mit Prof. Helen Keller, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und heute Professorin für Völkerrecht an der Uni Zürich, sowie mit Prof. Peter Hettich, Direktor des Lehrstuhls für Wirtschaftsrecht der Uni St.Gallen. Helen Keller hält den Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 2021 für epochal. Darin wird der Staat dazu verpflichtet, das Klimaschutzgesetz so anzupassen, dass der im Grundgesetz festgelegt Schutz der Menschen auch in Zukunft (konkret nach 2030) garantiert ist ("untertemporale Verpflichtung"). Peter Hettich findet es hingegen generell für gefährlich, wenn Gerichte dem Gesetzgeber Kompetenz- und Handlungsaufträge erteilen, die mit politisch motiviertem Mentschenrechtsgehalt gefüllt sind. Damit werde auch das Prinzip der Gewaltentrennung verletzt. Helen Keller räumt aufgrund einer eigenen Untersuchung der konkreten Folgen von 300 Umweltverfahren an Gerichten ein, dass die Hoffnungen auf die Gerichte für den Klimaschutz kaum erfüllt werden. Die Debatte über Gerichtsentscheide hat aber einen wachsenden Einfluss auf die öffentliche Umweltdiskussion.
3/13/2022 • 48 minutes, 33 seconds
„Brauchen wir eine Brandmauer zwischen Antisemitismus und Israelkritik?“ mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Abraham Lehrer.
Über eine solche Brandmauer diskutiere ich mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der früheren deutschen Justizministerin, und Abraham Lehrer, dem Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Beide widersprechen meiner These, dass wir für die Bekämpfung des Antisemitismus nur weiterkommen, wenn wir bezüglich der Israel-Kritik eine klare Trennlinie zwischen einerseits antisemitischen Positionen - auch gegen das Existenzrecht Israels - und andererseits der Kritik an der Verletzung von Menschenrechten und Völkerrecht durch israelische Institutionen ziehen. Beide Gesprächspartner aregumentieren, ohne die Legitimität begründeter Kritik in Frage zu stellen, dass sie diese Trennlinie nicht für möglich halten, insbesondere weil sich der Antisemitismus immer leicht mit Israelkritik tarnen lässt. Die Diskussion entzündet sich vor allem daran, dass der deutsche Bundestag in einem Beschluss die BDS-Bewegung (die zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen im Kampf gegen israelische Politik aufruft) als antisemitisch einstufte, zumal die BDS-Bewegung selbst die erwähnte Trennlinie nicht klar zieht. Ein weitgefasstes Antisemitismusverständnis läuft aber Gefahr, kritische Positionen aus einer konstruktiven Debatte über israelische Politik auszuschliessen.
2/28/2022 • 46 minutes, 37 seconds
"Soll uns das Museum erklären, wer wir sind?“ mit Denise Tonella und Raphael Gross
Denise Tonella ist Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums und Raphael Gross Präsident des Deutschen Historischen Museums. Mit ihnen diskutiere ich, wie Museum geht. Wie kann ein historisches Museum unser Land, unsere Welt und unsere Zeit erklären? Und wie kann es die Erwartungen der Besucherinnen erfüllen? In der Debatte entwickeln zwei prominenten Ausstellungsmacher ihre Gedanken dazu. Für Raphael Gross ist das Ziel in Anlehnung an Hannah Arendt, die historische Urteilskraft zu stärken, Denise Tonella will mit dem Blick auf die Vergangenheit die Fähigkeit vermitteln, die Gegenwart besser zu verstehen. Sie versucht gleichzeitig, das gesellschaftliche Verständnis von Geschichte vermehrt mit Hilfe der historischen Objekte als nur aufgrund von Texten zu fördern.
2/13/2022 • 50 minutes, 39 seconds
"Lügt die Politik?" - mit Jacqueline Fehr und Georg Kohler
„Lügt die Politik?“. Darüber diskutiere ich mit Jacqueline Fehr, Regierungsratspräsidentin des Kantons Zürich, und Georg Kohler, emeritierter Philosophieprofessor der Uni Zürich. Hannah Arrendt schrieb 1967: „Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand“, was Georg Kohler nur bestätigen kann: „Lügen gehört zur Staatskunst“.
1/29/2022 • 47 minutes, 8 seconds
Ist die Schweiz noch reformfähig ? - mit Monika Rühl und Peter Grünenfelder
Die Schweiz schiebt dringende Probleme in die Zukunft. Die Politik ist unfähig, rasch zu entscheiden. Das CO-2 Gesetz scheiterte an der Urne. Seit 24 Jahren ist die Altersvorsorge nicht mehr erneuert worden. Und im Mai hat der Bundesrat das EU-Rahmenabkommen abrupt versenkt – ohne Plan B. Darüber diskutiere ich mit Monika Rühl, der Direktorin von Economiesuisse, dem grössten Dachverband der Schweizer Wirtschaft, und Peter Grünenfelder, Direktor der Denkfabrik Avenir Suisse. – Monika Rühl sagt zur Europapolitik: „Der drei-Phasenplan des Bundesrates ist in drei Phasen nichts tun und das ist nicht akzeptabel“
1/12/2022 • 52 minutes, 40 seconds
“Überlebt die nationale Identität in der Migrationsgesellschaft”? - mit Lukas Bärfuss und Naika Foroutan
Wer sind wir ? Was bleibt von unserer nationalen Identität, wenn ein Drittel der Bevölkerung, an gewissen Orten sogar gegen die Hälfte Eingewanderte sind? Gilt es, dagegen unser traditionelles Selbstverständnis zu schützen, ja dieses als Leitkultur zu verteidigen? Soll dabei gegen den erstarkenden Nationalismus der Rechtspopulisten die Idee der pluralistischen zivilen Nation gestärkt werden oder wäre es nicht besser, den Nationalismus als Quelle von Konflikten und Kriegen überhaupt zu überwinden? Darüber diskutiere ich mit dem Schriftsteller Lukas Bärfuss und Prof. Naika Foroutan, Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung.
12/29/2021 • 58 minutes, 48 seconds
Sicherheitspolitik: Rüsten wir uns für den letzten Krieg oder gegen die Gefahren der Zukunft? - mit NR Priska Seiler-Graf und Hans-Peter Bartels
Wachsende und neue Gefahren stellen die traditionelle Sicherheitspolitik in Frage. Die internationalen Spannungen nehmen zu. Cyber ist zu einer massiven Bedrohung geworden, die in ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen gar nicht richtig abgeschätzt, geschweige denn gelöst werden kann. Dazu verschärft der Klimawandel die Gefahr von Naturkatastrophen. Aber anstelle eines radikalen Umdenkens verharrt die Sicherheitspolitik mit dem Schwerpunkt auf eine materiellen Aufrüstung (Beschaffung neuer Kampfflugzeuge) in traditionellen Bahnen. - Darüber diskutiere ich mit Nationalrätin Priska Seiler-Graf und Hans-Peter Bartels, der bis vor kurzem Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und zuvor Bundestagsabgeordneter war.
12/14/2021 • 45 minutes, 48 seconds
Wer ist schuld am Rechtspopulismus? - mit Nadine Masshardt und Roger de Weck
Der neue Rechtspopulismus hat die politische Diskussion nicht nur auf dem traditionellen links-rechts-Parameter nach rechts bewegt, vielmehr gefährdet er die grundsätzlichen Werte der Aufklärung und damit die Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaat. Wer trägt die Verantwortung für diese Entwicklung ? Sie allein bei den Rechtspopulisten zu verorten, ist zu einfach. Darüber diskutiere ich mit Nationalrätin Nadine Masshardt und Roger de Weck, Autor von “Die Kraft der Demokratie - eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre" (Suhrkamp 2020).
11/29/2021 • 51 minutes, 48 seconds
Ist Gleichstellung ein Männerproblem? mit NR Kathrin Bertschy und Markus Theunert
Ist Gleichstellung ein Männerproblem? oder: Wie führen wir die Gleichstellungsdebatte aus der “Von-Frauen-über-Frauen-für-Frauen-Sackgasse” heraus ? Darüber diskutiere ich mit Nationalrätin Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin des Frauendachverbandes alliance F und Markus Theunert, Gründungspräsident von Männer.ch und Leiter des Schweizerischen Instituts für Männer- und Geschlechterfragen.
11/17/2021 • 49 minutes, 29 seconds
Ist eine Mitte-Links-Allianz möglich? - mit Daniel Jositsch und Laura Zimmermann
"Ist eine Mitte-Links-Allianz möglich?" - Diese Frage stellt sich vor allem, weil das Lager der Sozialdemokraten, Grünen und Grünliberalen einen wachsenden Zulauf erhält, sich progressive Anliegen in der Politik aber trotzdem kaum durchsetzen können (zB Scheitern des CO-2-Gesetzes in der Abstimmung vom Juni 2021). Darüber diskutiere ich mit Ständerat Daniel Jositsch (SP Zürich) und mit Laura Zimmermann, bis vor kurzem Co-Präsidentin der Operation Libero.
11/8/2021 • 51 minutes, 36 seconds
Verpasst die Schweiz die Chance ihrer Italianità? - Mit Marina Carobbio und Marco Solari
Die Frage der schweizerischen Italitanità diskutiere ich mit Marina Carobbio, der Tessiner Ständerätin, und Marco Solari, dem Präsidenten des Filmfestivals Locarno. Die Antwort suchen wir an drei Bruchstellen: Die fehlenden Beziehungen der Tessinerinnen und Südbündner mit den italienischen Immigranten in der übrigen Schweiz sowie die Abgrenzung der deutschen Schweiz zum Tessin und die Abgrenzung des Tessins zu Italien.
10/25/2021 • 50 minutes, 53 seconds
"Überleben Rechtsstaat und Demokratie, wenn Wahrheit und Vertrauen erodieren?" Mit Samir und Sibylle Lichtensteiger
Tim Guldimann diskutiert mit dem Schweizer Filmemacher Samir und Sibylle Lichtensteiger, der Leiterin des Stapferhauses Lenzburg, über die gefährdeten Grundwerte der Aufklärung.
10/6/2021 • 1 hour, 21 seconds
"Staat, Kultur & Cancel Culture" mit Monika Grütters und Adolf Muschg
Mit Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien der deutschen Bundesregierung und dem Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg
9/24/2021 • 46 minutes, 30 seconds
"Film, Kunst und Moral" mit Martina Gedeck und Stefan Haupt
Tim Guldimann diskutiert mit der deutschen Schauspielerin Martina Gedeck und dem Schweizer Filmemacher Stefan Haupt über "Film, Kunst & Moral".